Bebildertes Wort zum Sonntag (1): „Dieser Crassus mit seiner Muräne“ (Über die Sprachkrise)

„Dieser Crassus mit seiner Muräne…. über den Abgrund der Jahrhunderte hergeworfen“

Das las ich in Hugo von Hofmannsthals berühmtem „Brief“ des Lord Chandos an Francis Bacon (1902, Reclam, Gelbe Reihe, S.58): „Ich weiß nicht, wie oft mir dieser Crassus mit seiner Muräne als Spiegelbild meines Selbst, über den Abgrund der Jahrhunderte hergeworfen, in den Sinn kommt.“

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Was folgt, ist ein kurzer Blick auf die beteiligten Personen dieses Zitats: Crassus, Lord Chandos, Francis Bacon, Hugo von Hofmannsthal. Was eine Muräne ist und wie sie aussieht, kannst du bei Bedarf selbst eruieren.

Foto Wikipedia

Marcus Licinius Crassus, der über den Tod seines Lieblings-Fisches, einer rotäugigen Muräne, blutige Tränen vergoss, lebte von 115-53 v.Chr. Er war berühmt für seinen Reichtum, den er während des Bürgerkriegs durch Beschlagnahmung des Besitzes politischer Gegner zusammenraffte. Auch sonst war er nicht zimperlich: „Sein Vermögen mehrte er zielstrebig, u. a. durch Vermietung von zu Fachkräften weitergebildeten Sklaven und als Grund- und Hausbesitzer; nach Plutarch ließ er seine Handlanger Häuser in Brand stecken, die dann von Crassus’ Privatfeuerwehr gerettet wurden, nachdem Crassus die Hauseigentümer gezwungen hatte, für wenig Geld ihr Eigentum auf ihn zu übertragen. Als er 85 v. Chr. nach Spanien flüchtete, verfügte er über ein Vermögen von 300 Talenten, am Ende seiner Karriere konnte er auf 7100 Talente zurückgreifen.“ (Wiki)

Während des Spartacus-Aufstandes tat sich Crassus besonders hervor: Nach dem mühsamen Sieg über das Sklavenheer ließ er die 6000 gefangenen Sklaven entlang der Via Appia kreuzigen. Hübsch, nicht wahr?

Crassus war der 3. Mann im Triumvirat mit Caeesar und Pompejus, die die Römische Republik aushebelten.

Warum Lord Chandos (nach Hofmannsthal) in diesem Crassus eine Art Inspirator sah, in dessen Licht er seine Sprachkrise erläutert? Das ist mir ein Rätsel.  Der (imaginäre) Lord Chandos lebte als jüngerer Sohn des Earl of Bath, und schrieb den Brief 1603  an Francis Bacon, späterer Lord Verulam und Viscount St. Albans – also 3 Jahrhunderte bevor Hofmannsthal ihn erfand.

Francis Bacon lebte von 1561-1626. Ich würde ihn als vorbildlichen Opportunisten bezeichnen: Als Jurist war er u.a. für die Anklage eines nun in Ungnade gefallenen Freundes und Förderers zuständig,  als oberster Staatsanwalt für Folterungen und Todesurteile an Kritikerns des politischen Systems verantwortlich, selbst homosxuell, ging er die Ehe mit einer wohlhabenden Vierzehnjährigen, schließlich selbst wegen Korruption verurteilt -, gilt als „Wegbereiter des Empirismus„. Er starb an den Folgen seines einzigen eigenhändig ausgeführten Experiments: er wollte  wissen, „ob sich die Haltbarkeit toter Hühnchen durch Ausstopfen mit Schnee verlängern ließe, zog er sich eine Erkältung zu und erlag wenig später einer Lungenentzündung“ (wiki).

Was hatte Hugo von Hofmannsthal im Sinn, als er diesen fiktiven Brief eines Lord Chandos an Francis Bacon schrieb? Man sagt: die Sprachkrise, die der Generation zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu schaffen machte. Hofmansthal lebte 1874-1929 und war 1902, als er den Brief verfasste, ein erfolgreicher junger Dichter – ähnlich seinem Lord Chandos, der seinem älteren Mentor Bacon höchst wortgewandt darlegt, warum er nicht mehr schreiben kann.

Was aber ist eine Sprachkrise? Ich würde es mal salopp so ausdrücken: keine literarisch passablen Worte zu finden angesichts der Kluft zwischen dem ethischen Anspruch und den tatsächlichen Lebensverhältnissen, zwischen den offiziell vertretenen Werten einer Gesellschaft und dem realen Unrechtssystem. Nicht aussprechen können, was zum Himmel schreit, weil man dafür seine bürgerliche Existenz und gesamte Bildung über Bord werfen müsste und nur noch „Scheiße“ schreien könnte. Kurzum: auch heute leben wir in einer Sprachkrise, die es in sich hat. 

 

 

 

 

Über gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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19 Antworten zu Bebildertes Wort zum Sonntag (1): „Dieser Crassus mit seiner Muräne“ (Über die Sprachkrise)

  1. Ola schreibt:

    Wundervoll. Diese ausgewogene, mit fairem Abstand dargelegte Beurteilung der Beteiligten. Hat mir den Sonntag beträchtlich verschönt.

    Gefällt 4 Personen

  2. Gisela Benseler schreibt:

    Das ist hart und extrem grausam. Aber wieso ziest Du Vergleiche und sprichst von „wir“, Gerda? Weil ich dem nicht zustimme, gibt es heute kein „like“ von mir.

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    • gkazakou schreibt:

      Ich like auch dann, wenn ich nicht zustimme, weil es mir gefällt, wenn jemand etwas für ihn Wichtiges zur Diskussion stellt und mir dadurch etwas zum Denken gibt. Dass ausgerechnet du das „wir“ bemäkelst, wundert mich, zumal ich es nur einmal benutze.

      Gefällt 1 Person

    • gkazakou schreibt:

      „like“ heißt für mich nicht, dass ich mit der Ansicht des anderen übereinstimme, sondern es heißt nur, dass ich die Ansicht des anderen freundlich zur Kenntnis nehme, dass ich es mit Interesse angesehen oder gelesen habe . So zB hier: ich „like“ deinen Kommentar, nicht weil ich übereinstimme (was ich offenbar nicht tue), sondern weil du dich bemüht hast, die für dich richtigen Worte zu finden. …….Sehr selten stimme ich vollkommen mit dem überein, was ein anderer denkt und schreibt. Falls es doch mal vorkommt, notiere ich es extra, schreibe zB „dem kann ich voll zustimmen“ oder „zu allem JA“.

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      • Gisela Benseler schreibt:

        Da sind wir nun mal verschieden. Ich kann nur ein „like“ setzen, wenn ich mit dem Inhalt übereinstimmen kann im großen und ganzen , und natürlich möchte ich auch das persönliche Bemühen des Anderen wertschätzen. Wenn es mir aber ganz „gegen den Stich“ ist, geht das einfach nicht.

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  3. Verwandlerin schreibt:

    Intellektuell informativ, künstlerisch unterhaltsam, politisch anregend.

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  4. gkazakou schreibt:

    ergo gelungen 😉 Danke, Marion!

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  5. felsenquell schreibt:

    Ach, liebe Gerda, es ist doch seltsam, daß Hofmannsthal für die von ihm diagnostizierte Sprachkrise so viele schöne Worte findet. Und Du scheinst mir auch nicht in einer Sprachkrise zu stecken, im Gegenteil.

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  6. gkazakou schreibt:

    Hofmannsthal ist freilich ein großer Sprachkünstler. Dass du auch bei mir keine Sprachkrise feststellst, freut mich natürlich. Ich fühle oft, dass mir die richtigen Worte fehlen. Aber vielleicht fehlen auch die klaren Gedanken – die Worte folgen schon, wenn man richtig denkt. .

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  7. wildgans schreibt:

    …literarisch passable Worte…
    Nachtgruß von Sonja

    Gefällt 1 Person

  8. Myriade schreibt:

    Sehr schön entfaltet und aufgerollt und dargelegt 🙂

    Gefällt 3 Personen

  9. www.wortbehagen.de.index.php schreibt:

    Danke für alle diese Informationen, denen Du über die Jahrhunderte folgst und uns nahebringst, liebe Gerda.
    Bei Dir finde ich keinen Ansatz zu einer Sprachkrise, im Gegenteil, Deine Beiträge werden immer umfangreicher und somit noch informativer und ich genieße es sehr.

    Gefällt 2 Personen

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