112 Stufen, 113: Mut (θαρρος/κουράγιο, Hermann Hesse, Wilhelm Hauff, Franz Kafka, Bertold Brecht, Shakespeare)

Reiner hat ein „Mitmachding“ initiiert. Es geht darum, jeden Tag einen Text zu einem Wort zu posten, das sich auf der Holsteiner Treppe in Wuppertal, verteilt auf 9 Absätze befindet. Es reizt mich, da mitzumachen, allerdings eher nicht mit eigenen Textproduktionen, sondern mit literarischen Assoziationen und Gedichten anderer. Ich bin gespannt, welche Texte, Gedichte, Geschichten jedes dieser Wörter in meiner Erinnerung aufleuchten lässt. All diese Erinnerungen an Gelesenes und im Gedächtnis Aufgehobenes sollen mir einen nachklingenden Teppich weben, den ich über die Stufen lege, um noch einmal hinaufzusteigen.

Vom Fisch zum Vogel: Wandlungen zwischen Himmel und Meer

Wie Hermann Hesse in seinem Gedicht „Stufen“ sagt, endet „des Lebens Ruf an uns“ auch nach der letzten Stufe nicht, denn ein neuer Aufbruch steht bevor.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden,
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

Für diesen neuen Aufbruch, da braucht es Mut! Der Düsseldorfer Künstler Horst Gläsker, der zusammen mit seiner Frau Margret Masuch-Gläsker die Holsteiner Treppe in Düsseldorf gestaltete, hat weise verschwiegen, dass es eine 113. Stufe gibt. Und die trägt das Wort „MUT“. Ich habe wieder und wieder gezählt. Der letzte Treppenabschnitt hat elf Stufen, das macht eine Stufe mehr als 112.

Die Treppe hat 113 Stufen.

Mut braucht es, um zu leben, Mut braucht es, um zu sterben. Mut braucht es, um weiterzumachen, Mut braucht es, um aufzubrechen.

„Mut hat auch der kleine Muck“ ist meine Lebensdevise, so schrieb ich, und obgleich hier Mitlesende meinten, dass Wilhelm Hauffs  „Kleiner Muck“ überhaupt nicht besonders mutig und nicht mal besonders sympatisch ist, bleibe ich dabei.  Mach aus dem Muck eine Mücke, wenn dir das besser gefällt! Mut braucht auch die! Mut brauchen wir alle, immer und jeden Tag.

Es gibt freilich zwei Arten von Mut, und die unterscheidet die griechische Sprache. Das alte Wort dafür ist ΘΑΡΡΟΣ (tharros): Θ wird gesprochen wie das scharfe englische th, indem man die Zungenspitze von Innen gegen die nur leicht geöffnete obere Zahnreihe drückt und einen starken Atemstrom dagegen presst. So entsteht im Versuch, das Hindernis der Zähne zu überwinden, ein dumpf-zischender Laut.

In der Buchstabenfolge des Alphabets steht Θ an achter Stelle.

Im „Alphabet des freien Denkens“*, das ich 2016-17 im Austausch mit Ulli Gau gestaltete, habe ich diesen Buchstaben „vergessen“. Ich wollte ihn immer nachtragen, tat es aber nie. Es ist ein ganz besonderer Buchstabe: ein Tor mit einem Riegel. Die Worte ΘΥΡΑ und ΘΕΟΣ – Tür/Tor und Gott – beginnen mit ihm.

Θ

„Vor dem Gesetz“ heißt die wohl bekannteste Erzählung von Franz Kafka (1883-1924), die einzige aus dem Romanprojekt „Der Prozess“, die er selbst veröffentlichte (1915). Hier der Volltext. Es lohnt sich, sie wieder und wieder zu lesen. Franz Kafka selbst vermerkte in seinem Tagebuch, dass er „Zufriedenheits- und Glückgefühle“ empfand, als er den Text abermals las.

Es ist die Geschichte von einem einfachen Menschen (Mann vom Lande), der zum „Gesetz“ gelangen möchte, sich aber nicht traut, ohne ausdrückliche Erlaubnis am Türhüter vorbei hineinzugehen. Ein Leben lang studiert er diesen Türhüter, der ihm schrecklich zu sein scheint und der ihm bedeutet, dass nach ihm andere, viel schrecklichere Türhüter zu passieren wären. Das schreckt den Mann noch mehr ab. Schließlich gehts ans Sterben:

Vor seinem Tode sammeln sich in seinem Kopfe alle Erfahrungen der ganzen Zeit zu einer Frage, die er bisher an den Türhüter noch nicht gestellt hat. Er winkt ihm zu, da er seinen erstarrenden Körper nicht mehr aufrichten kann. Der Türhüter muß sich tief zu ihm hinunterneigen, denn der Größenunterschied hat sich sehr zu ungunsten des Mannes verändert. „Was willst du denn jetzt noch wissen?“ fragt der Türhüter, „du bist unersättlich.“ „Alle streben doch nach dem Gesetz,“ sagt der Mann, „wieso kommt es, daß in den vielen Jahren niemand außer mir Einlaß verlangt hat?“ Der Türhüter erkennt, daß der Mann schon an seinem Ende ist und, um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: „Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.“

Was fehlte diesem Mann? Θαρρος-Mut fehlte ihm, an Türhütern vorbei durch die Türen zu gehen, die sich ihm öffneten und ihn „zu neuen Räumen“ (Hesse) geführt hätten. Dieser Θαρρος-Mut ist ein Mut des Aufbruchs ins Unbekannte und des Neubeginns.

Daneben gibt es ein anderes, heute üblicheres Wort für Mut: κουράγιο (couragio). Es ist dasselbe wie das italienische corragio, das französische courage, das englische courage. Bertold Brechts (1898-1956)  Mutter Courage*ist für mich der Inbegriff des Muts des Durchhaltens: Weitermachen, nicht Aufgeben! Couragio! Einem Kranken, einer Mutter mit behinderten Kindern, einem Strafgefangenen wünscht man: couragio! Lass dich nicht unterkriegen! Trage tapfer deine Last! Von Aufbruch kann da freilich keine Rede sein, alles ist Wiederholung, bis die Kräfte sich aufgezehrt haben und es eben nicht mehr weitergeht. Diese Art von Mut hat auch der Mann vor dem Gesetz: Er verlässt seinen Platz nicht, er gibt nicht auf, sondern versucht wieder und wieder, den Türhüter umzustimmen.

Couragio – ja, den braucht es im täglichen Leben. Noch einmal die paar Schritte zur Haustür schaffen, noch einmal aufstehen, noch einmal die zerfallenden Zähne putzen, noch einmal den Heizungsmonteur anrufen, noch einmal den Tag über schuften, um die Kinder satt zu bekommen… die vielen kleinen Plagen, die stings and arrows wie Hamlet ertragen, und wie Macbeth klagen: „tomorrow and tomorrow and tomorrow creeps in this petty pace from day to day …“(hier).

Schon die Bibel (Psalm 90,10, Luther-Übersetzung) kennt diese Art von Mut: „Das Leben währet 70 Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s 80 Jahre, und wenn’s köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen…“

Der Couragio-Mut ist das tägliche Brot. Der Tharros-Mut ist etwas ganz anderes. Ihn braucht man, um am Türhüter auch ohne dessen Erlaubnis vorbeizugehen, ihn braucht man, um der Staatsmacht entgegen zu treten und auch, um sich selbst zu überwinden. Ihn braucht man, um Routinen zu brechen, vor großen notwendigen Verwandlungen nicht zurückzuschrecken, und vor allem in der Todesstunde, beim Aufbruch ins vollkommen Unbekannte, wird man ihn brauchen.

Nur Mut!

Dora und Jonas auf dem Himmelsschiff Wal


*Den Laut Θ habe ich auch im Wort Anthropos besprochen. „Das T wird zum stimmlosen Reibelaut Θ (zu sprechen wie thank you). Θ  ist das Zeichen für das Göttliche. ΘΕΟΣ (Theos) = Gott. … Dieses Θ nimmt aber auch die Bedeutung von Schauen an (Θεατρο = Theater,  θεαμα = Show, Θεα = Sicht, Aussicht). ΑΝΘ (anth) bedeutet mithin :  „Gegenüber dem erschauten Göttlichen“.

Auch im Wort „Ελευθερία“ (Eleftheria) – Freiheit kommt es vor. Im „Alphabet des freien Denkens“: hier und hier.

**1938/39 von Bertold Brecht unter Mitarbeit von Margarete Steffin im schwedischen Exil verfasstes Drama über eine Marketenderin im Dreißigjährigen Krieg. 1941 in Zürich uraufgeführtes Drama. Mutter Courage versucht, mit dem Krieg Geschäfte zu machen, verliert dabei ihre drei Kinder, aber sie lässt sich nicht unterkriegen und zieht weiter: „Der Frühling kommt, Wach auf, du Christ! Der Schnee schmilzt weg, die Toten ruh’n, Und was noch nicht gestorben ist, Das macht sich auf die Socken nun!

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About gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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28 Responses to 112 Stufen, 113: Mut (θαρρος/κουράγιο, Hermann Hesse, Wilhelm Hauff, Franz Kafka, Bertold Brecht, Shakespeare)

  1. Ich finde es sehr weise von den Vorausdenkern dieser „Holsteiner Treppe“.
    Für mich kommt das Wort „Mut“ gerade wie eine Idee „des Himmels“ herab zu uns Menschen.
    Zuvor hörte ich die bewegende frei „Rede“ von Gerwin Lovretti
    nach seinem Besuch der Trauerfeier um Charlie Kirk in den USA.
    Dazu gehörte wahrer Mut.
    Und dann doch keinen Mut mehr;
    denn er verwandelt sich in einen „Aufbruch“ neuer Art,
    und viele folgen ihm, folgen einem inneren Ruf.

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    • Avatar von Myriade Myriade sagt:

      Viel Vergnügen im Tausenjährigen Reich 2.0!

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      • Avatar von gkazakou gkazakou sagt:

        es wäre schön, Myriade, wenn du beim Kommentieren die Verhältnismäßigkeit nicht aus dem Auge verlieren würdest

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      • Avatar von Myriade Myriade sagt:

        Ich finde meinen Kommentar nicht wirklich unverhältnismäßig. Gerührte Schwärmerei für faschistisch denkende Personen und deren Veranstaltungen halte ich einerseits für moralisch verwerflich und andererseits für gefährlich. Wenn mir Meinungsäußerungen dieser Art unterkommen, lasse ich sie nicht gerne unkommentiert. Auch wenn es in diesem Fall wahrscheinlich irrelevant ist. Aber ich verstehe, dass du als „Herrin“ deiner Kommentarspalte auf unfreundliche, wenn auch begründete Äußerungen reagieren willst/musst

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      • Avatar von gkazakou gkazakou sagt:

        Dein Kommentar IST unverhältnismäßig, egal wie du ihn findest, liebe Myriade. Das verbrecherische Nazi-Reich sollte man nicht leichtfertig relativieren, indem man es mit harmlosen Schwärmereien verwechselt.

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      • Avatar von Myriade Myriade sagt:

        Nicht die Schwärmereien einer sicher ganz harmlosen Frau sind gefährlich, aber die Sache für die sie hier öffentlich schwärmt. Kirk hat zu Mord zB an Obama aufgerufen. Trump verkündet das Lob des Hasses. Wie die Evangelikalen das mit ihrem angeblichen Christentum und dessen Grundprinzipien wie Liebe und Vergeben unter einen Hut kriegen, ist mir schleierhaft. Wohin es führt wenn man andersdenkende Menschen ermordet… Nicht in dasselbe mörderische System wie der Nationalsozialismus,. Geschichte wiederholt sich nicht, aber doch in eine Form des Faschismus. Auch bei den Nazis gab es liebe, harmlose Damen, die über Hitlers Ideologie begeistert gejubelt haben

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      • Avatar von gkazakou gkazakou sagt:

        das ist es eben: du erfindest frei einen „Mordaufruf“ und mobilisierst den ganzen Rattenschwanz von Befürchtungen . Obama selbst hat den Mord an Kirk sehr deutlich verurteilt. Und das tue ich auch. Es gibt dafür keine Rechtfertigung. Und schon gar nicht entsteht daraus ein neuer Faschismus.

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      • Avatar von Myriade Myriade sagt:

        Der Mordaufruf ist nicht erfunden. Den Mord verurteile ich auch ohne aber im Gegensatz zu Trump den Hass verherrlichende Statements abzugen.
        Aber lassen wir es lieber, wir wissen ja beide, dass wir sehr unterschiedliche Ansichten in der Politik haben

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      • Es war mein persönlicher, echt empfundener Beitrag zum vorgegebenen Thema „Mut“.
        Und wenn jemand etwas innerlich Empfundenes schlicht in Worte zu fassen versucht, ist das zu respektieren, finde ich.

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      • Avatar von gkazakou gkazakou sagt:

        ich finde es keineswegs gleichgültig, ob Kirk zum Mord an Obama (oder zu irgendeinem Mord) aufgerufen hat oder nicht. Ich habe extra danach gesucht und nichts gefunden. Bitte um deine Quelle. Dasselbe gilt auch für „Hassreden“ vonnTrump. Wo? Was sagte er wörtlich?

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      • Avatar von Myriade Myriade sagt:

        Den (die) Mordaufrufe von Kirk findet man gemeinsam mit diversen Scheußlichkeiten in seinen diversen Social Media Accounts, wo genau kann ich dir leider nicht mehr sagen. Trump hat vor ein paar Tagen eine Rede gehalten, in der er sagt, dass man seine Widersacher hassen muss und dass er den Hass schätzt

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      • Avatar von gkazakou gkazakou sagt:

        Liebe Myriade, ich habe jetzt die Rede und auch die Kommentierungen bei ZDF, Zeit etc angeschaut, da steht nur, dass Trump sagt, dass er seine Feinde hasst. Er sagt das quasi als Antwort auf Frau Kirk, die dem Mörder vergibt, weil ihr Mann das ebenso sehen würde. „Ich hasse meine Feinde“ ist kein Aufruf zum Hass, sondern ein Eingeständnis, noch nicht auf der Höhe des christlichen Glaubens zu sein.

        Der Hinweis auf Kirks Social Media, die angeblich einen Mordaufruf und „andere Scheußlichkeiten“ enthalten, überzeugt mich nicht. Wieso findet sich dann nichts davon im Netz? Wie du ja weißt, gibt es viele Gegner Kirks, die genau nach solchen Aussagen suchen – und anscheinend nicht fündig wurden. Die drei Stellen, die im deutschen TV zitiert wurden, mussten korrigiert werden. Ich möchte dich bitten, entweder zu widerrufen oder die entsprechenden Stellen zu benennen, um die Debatte auf eine sachliche Ebene zu bringen. Einem Ermordeten Dreck hinterherzuwerfen und scheußliche Dinge über ihn zu behaupten – das ist Hass, und der sollte gut begründet sein.

        Im übrigen habe ich von Charley Kirk erst durch seine Ermordung erfahren und argumentiere aus keiner politischen Voreingenommenheit heraus. Wenn du mir die Stellen nennst, nehme ich sie gerne zur Kenntnis und korrigiere meine Ansichten über Kirk.

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  2. Das ist nur der „Impuls“, dennoch persönlich daraus aufnahm in dem Moment, als ich es hörte.
    Und solche bewegenden Momente gibt es ja viele,
    für jeden Menschen wieder anders.

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  3. der Impuls, den ich persönlich…

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  4. Avatar von Johanna Johanna sagt:

    Danke, das sind sehr wertvolle Überlegungen…und welchen Mut der Alltag fordert, einfach nicht aufzugeben! 112 scheint wie ein Abschluss… 113 wie ein Aufbruch! Ja die Reise geht immer weiter 🙏🌟

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  5. Avatar von Myriade Myriade sagt:

    Man unterscheidet ja auch im Deutschen Tapferkeit, die erträgt und Mut der aktiv ist

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  6. Avatar von Ulli Ulli sagt:

    Liebe Gerda, wir sind ja schon etwas älter geworden, aber mir erscheint dann doch, dass wir etwas jünger sind als dass wir 1916-17 unsere Alphabete geschrieben hätten 😉

    Danke für diesen Beitrag.

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  7. Avatar von Myriade Myriade sagt:

    Ich wollte dir schon gerade schreiben. Ja, ich muss mich entschuldigen diesen konkreten Mordaufruf hat es offenbar nicht gegeben bzw habe ich ihn mit dem Aufruf zur Todesstrafe für Biden verwrchselt https://www.snopes.com/fact-check/charlie-kirk-biden-death-penalty/ bzw Der Tagesspiegel vom 16.9, der eher keine besonders verlässliche Quelle ist.
    Die Sache mit Trump der angeblich bedauert, dass er moralisch noch nicht auf der Höhe ist, glaube ich angesichts von Trumps Handlungen und öffentlichen Äußerungen einfach nicht
    Die Sache ist höchst komplex und sehr interessant finde ich die Unterschiede in der Definition von Meinungsfreiheit in den USA und in Europa

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