112 Stufen, 109: Ehren (Das vierte Gebot – Moses, Luther, Alexander Mitscherlich)

Reiner hat ein „Mitmachding“ initiiert. Es geht darum, jeden Tag einen Text zu einem Wort zu posten, das sich auf der Holsteiner Treppe in Wuppertal, verteilt auf 9 Absätze befindet. Es reizt mich, da mitzumachen, allerdings eher nicht mit eigenen Textproduktionen, sondern mit literarischen Assoziationen und Gedichten anderer. Ich bin gespannt, welche Texte, Gedichte, Geschichten jedes dieser Wörter in meiner Erinnerung aufleuchten lässt. All diese Erinnerungen an Gelesenes und im Gedächtnis Aufgehobenes sollen mir einen nachklingenden Teppich weben, den ich über die Stufen lege, um noch einmal hinaufzusteigen.

Das 4. Gebot des Dekalogs fällt mir spontan ein.

Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass es dir wohl ergehe und du lange lebest auf Erden

Und auch der Schülerspruch fällt mir ein:

Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, und wenn sie dich schlagen, sollst du dich wehren.

Martin Luther ging in seinen Erklärungen ein gutes Stück über das 4. Gebot hinaus, indem er in das Gebot auch die Obrigkeit oder sonstige „Herren“ einbezog:

Martin Luther (1483–1546)

„Was ist das? Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unsere Eltern und Herren nicht verachten noch erzürnen, sondern sie in Ehren halten, ihnen dienen, gehorchen, sie lieb und wert haben.“

Ehren (nicht unbedingt auch lieben) sollen wir unsere Eltern, sagt das 4. Gebot, aber Luther möchte darüberhinaus, dass wir ihnen und sonstigen Herren dienen, gehorchen, sie lieb und wert haben. Und warum sollten wir es tun? Das Gebot sagt: damit es uns auf Erde gut gehe und wir lange leben. Aber ist das denn das Ziel der Christenheit? Sie hält die Erde doch für ein Jammertal, das zu verlassen keinesfalls ein Übel ist, und das „Wohlergehen“ ist ja auch nicht unbedingt vorgesehen für einen wahren Christenmenschen, der zu jeglichem Opfer, auch dem seines Lebens, aufgerufen ist.

Nun sind die Gebote ja nicht von Jesus, sondern von Moses den Menschen gegeben worden. Und insofern haben sie mit dem Christentum nur indirekt zu tun.

Das Gebot, Vater und Mutter zu ehren, wird den Israeliten zuerst beim Auszug aus Ägypten gegeben, wo auch die anderen Gebote erlassen werden, die das Zusammenleben dieser Volksgruppe regulieren sollen: Keine anderen Götter haben, den Sabbat halten, die Ehe achten, Eigentum des Mitwanderers respektieren … Und da versteht man es auch: Ihr, die ihr jetzt eine sehr beschwerliche Reise vor euch habt, gebt Acht, dass ihr auch die Alten und Gebrechlichen mitnehmt und freundlich behandelt, denn in ihnen habt ihr die Quelle eurer Überlieferungen und Weisheiten.

Das Gebot heißt wörtlich (hier in der altengriechischen Übertragung)

τίμα τον πατέρα σου και την μητέρα σου, ίνα εύ σοι γένηται, και ίνα μακροχρόνιος γένη επί της γης της αγαθής, ης Κύριος ο Θεός σου δίδωσί σοι.

Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit es dir wohl ergeht und du lange lebst in dem guten Land, das der Herr, dein Gott, dir geben wird. 

Als die Israeliten dann im Gelobten Land ankommen, werden sie ein zweites Mal an dieses Gebot erinnert. Auch das lässt sich leicht erklären: Passt auf, ihr, die jetzt ein ganz neues Leben beginnt, dass ihr das Alte nicht für entbehrlich und verachtenswert haltet. Ehrt es! Denn es verbindet euch mit euren Ursprüngen. Tut ihr es nicht, wird es euch schlecht ergehen!

Ich fand schon immer Luthers Auslegung dieses Gebots unerträglich, und wie vieles andere, was man uns im Konfirmationsunterricht erzählte, rief es bei mir nur Empörung hervor. Die Mutter wollte ich ja gern ehren, dafür brauchte ich aber keine kirchliche Anweisung. Die „Herren“ aber? Die, die uns oft genug sinnlose oder sogar menschenfeindliche Vorschriften machten? Nein, denen wollte ich weder dienen noch wollte ich sie lieb und wert halten. Ehre nur, wem Ehre gebührt! (Auch das geht übrigens auf ein Bibelzitat zurück: Apostel Paulus, Römerbrief 13,7 „So gebt nun jedermann, was ihr schuldig seid: Steuer, dem die Steuer, Zoll, dem der Zoll, Furcht, dem die Furcht, Ehre, dem die Ehre gebührt.“)

Wir hatten grad die NS-Zeit hinter uns, und der Gehorsam gegenüber dem, was diese „Herrenmenschen“ befahlen, hatte uns weder ein gutes noch ein langes Leben beschert.  Es hatte das Land, das „Gott uns gegeben hatte“, aufs Fürchterlichste heimgesucht und zerstört. Wir waren „auf dem Weg in eine vaterlose Gesellschaft“ (1963, von Alexander Mitscherlich (1908 – 1982)) weit vorangekommen, und ich war keineswegs auf der Suche nach einem Ersatz-Vater oder übergroßen Über-Ich.  Nein, für mich war abgemacht: ich würde jeweils sehr genau prüfen, wessen Anordnungen ich – wenn überhaupt – Folge leisten würde!

Außerdem hatte Jesus doch etwas ganz anderes gepredigt?

Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater, Mutter, Frau, Kinder, Brüder, Schwestern, dazu auch sein eigenes Leben, der kann nicht mein Jünger sein. (Luk 14,26)

Nun, „hassen“ ist ein sehr hartes Wort. Gemeint ist wohl eher, dass die, die ihm „nachfolgen“ wollen, die familiären Bindungen aufgeben müssen.

Und wie ist es heute in einer Zeit, wo Kinder ihre Eltern zwar nicht in der „Nachfolge Christi“, wohl aber im Verlangen nach „Selbstverwirklichung“ verlassen? Ist das verwerflich? Ist es nicht richtig, seinen eigenen Kopf zu haben und sich nicht gebunden zu fühlen an Überlieferung? Wo jede Generation sich von der vorangegangenen abzusetzen bestrebt ist und ihr erklärt, dass die Eltern alles falsch gemacht haben und man selbst es besser machen wird?

Ich bin auch so eine, die „Vater und Mutter“ verlassen und sich allein auf den Weg gemacht hat. Wir leben in einer Zeit, in der jeder auf sich selbst gestellt in Freiheit sich entwickeln will. Das schließt freilich nicht aus, Vater und Mutter nebst all dem zu ehren, was einem den Start ins Leben ermöglicht und einen genährt hat, solange man selbst nicht dazu in der Lage war. Und es ist durchaus angebracht, es gebührend heimzuzahlen, finde ich. Und das heißt: Gutes mit Gutem zu vergelten, Schlimmes abzuwägen und in sich zu gehen, obs noch immer so schlimm ist, dass es vergolten werden muss, oder ob man es auch einfach als „geschehen“ abbuchen darf.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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About gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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7 Responses to 112 Stufen, 109: Ehren (Das vierte Gebot – Moses, Luther, Alexander Mitscherlich)

  1. Avatar von Myriade Myriade sagt:

    Ich glaube beim „hassen“ ist ein „nicht“ zuviel…

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  2. Es soll eigentlich nur heißen: „Du sollst Vater und Mutter ehren“, also ohne „Dein“. Daraus entsteht dann ein ganz neuer Sinn.
    Abdruschin hat uns die 10 Gebote neu erklärt.

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  3. Etwas so: „Du sollst Vater- und Mutterschaft ehren“, also ein guter Vater und eine gute Mutter sein.“

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  4. Die Kinder trennen sich doch von ihren Eltern, um ein selbstbestimmtes Leben zu gehen.
    Die Eltern aber sollten sich nicht aus ihrer Menschenpflicht gegenüber ihren Kindern zurückziehen.

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  5. Gegenseitige Ansprüche gibt es aber nicht.
    Die Kinder haben keinen Anspruch an die Versorgung durch ihre Eltern, sondern sollten ihnen ein Leben lang dankbar sein,
    daß sie ihnen einen Start in dies Leben ermöglichten. Aber das hat auch nichts mit Verpflichtung oder Abhängigkeit zu tun.

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  6. Was Jesus meinte, hast Du wohl in etwa richtig gesagt. Jedenfalls hat „hassen“ eher die Bedeutung von Sich-Frei-Machen für die Nachfolge Christi.

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  7. „Auf daß es dir wohlergehe und du lange lebest auf Erden“ wurde von den Menschen leider meistens im egoistischen Sinne ausgelegt.
    Aber es hat auch einen anderen Sinn: Es bedeutet nicht: ich will lieb und gut sein aus Berechnung: damit ich es dann gut habe.
    Nein, es wie ein Handelsabkommen mit unserem Schöpfer anzusehen, ist doch abwegig.
    Es bedeutet nichts weiter als die Erklärung von Ursache und Wirkung: „Dann wird es mir gutgehen.“

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