Reiner hat ein „Mitmachding“ initiiert. Es geht darum, jeden Tag einen Text zu einem Wort zu posten, das sich auf der Holsteiner Treppe in Wuppertal, verteilt auf 9 Absätze befindet. Es reizt mich, da mitzumachen, allerdings eher nicht mit eigenen Textproduktionen, sondern mit literarischen Assoziationen und Gedichten anderer. Ich bin gespannt, welche Texte, Gedichte, Geschichten jedes dieser Wörter in meiner Erinnerung aufleuchten lässt. All diese Erinnerungen an Gelesenes und im Gedächtnis Aufgehobenes sollen mir einen nachklingenden Teppich weben, den ich über die Stufen lege, um noch einmal hinaufzusteigen.
Die alten Griechen benutzten, so versichert mir mein Mann, das Wort πιστεύω (ich glaube) nicht im heutigen täglichen Wortsinn. Man sagte δωκειν μοι (ich meine). Πίστη (Glauben) sei erst später für alles Mögliche, über das man nichts Genaues weiß, in Verwendung gekommen.
Sicher ist, dass „Glauben“ im Christentum eine sehr bedeutende Funktion hat. Dass der Glaube Berge versetzen kann – das hat wohl zuvor niemand behauptet.
„Wenn ihr Glauben habt wie ein Senfkorn, so könntet ihr sagen zu diesem Berg: Hebe dich dorthin, so wird er sich heben; und euch wird nichts unmöglich sein.“ (Matthäus 17,20)
Im wörtlichen Sinne wird es nicht gemeint sein – wie aber dann?
Die häufigste Deutung ist: wenn du einen festen Glauben hast, dann kannst du jegliches Hindernis überwinden. Doch Glauben an wen? Im Evangelium ist es klar definiert: an das, was Jesus verkündet. Heute aber bedeutet es für die meisten: Glauben an sich selbst, an die eigene Kraft. Wenn ich an mich selbst glaube, dann kann ich jedes Ziel erreichen.
Nicht von der eigenen Kraft, sondern von der Zuversicht, dass Gott bestens für alles sorgt wie ein Vater für seine Kinder, spricht Martin Luthers (1483-1546) Glaubensbekenntnis. Die erste Strophe seines Lieds „Wir glauben an einen Gott“ lautet:
Wir glauben all an einen Gott,
Schöpfer Himmels und der Erden,
der sich zum Vater geben hat,
dass wir seine Kinder werden.
Er will uns allzeit ernähren,
Leib und Seel auch wohl bewahren;
allem Unfall will er wehren,
kein Leid soll uns widerfahren.
Er sorget für uns, hüt’ und wacht;
es steht alles in seiner Macht.
Es folgen dann noch zwei Strophen, die das Glaubensbekenntnis vervollständigen
Wir glauben auch an Jesus Christ,
seinen Sohn und unsern Herren,
der ewig bei dem Vater ist,
gleicher Gott von Macht und Ehren,
von Maria, der Jungfrauen,
ist ein wahrer Mensch geboren
durch den Heilgen Geist im Glauben;
für uns, die wir warn verloren,
am Kreuz gestorben und vom Tod
wieder auferstanden durch Gott.
Wir glauben an den Heilgen Geist,
Gott mit Vater und dem Sohne,
der aller Schwachen Tröster heißt
und mit Gaben zieret schöne,
die ganz Christenheit auf Erden
hält in einem Sinn gar eben;
hier all Sünd vergeben werden,
das Fleisch soll auch wieder leben.
Nach diesem Elend ist bereit’
uns ein Leben in Ewigkeit.
Auch in diesen Strophen ist nirgends davon die Rede, dass der Mensch aus eigener Kraft etwas zu leisten vermag. „Für uns“ ist Christus gestorben, der Heilige Geist ist „des Schwachen Tröster“ … und am Ende des irdischen Jammertals ist uns ein ewiges Leben bereitet.
„Glauben“ verliert in der lutherischen Interpretation seinen Handlungs-Impuls, er wird zum „Empfangen der Gnade“. Das eigene Tun vermag nichts, nur der Glaube kann dich erlösen.
Erstaunlich ist, dass ausgerechnet Menschen dieses Glaubens die besten Geschäftsleute und Industriellen wurden – so jedenfalls Max Webers Ansicht, niedergelegt in „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ (erste Teil-Veröffentlichung 1904-5, überarbeitete Fassung 1920). Wenngleich er vor allem den Calvinismus im Auge hat, bezieht sich seine Analyse auf die gesamte protestantische Welt, der er einen „spezifisch gearteten Rationalismus“ unterstellt.
Welcher „Rationalismus“ aber soll das sein, der dem Glauben alles, dem Wissen und dem Tätigsein nichts zutraut?
Freilich hat Luther eine Tugend besonders betont: den Arbeitsfleiß. Der Mensch soll fleißig arbeiten, das sei gottgefällig und viel besser als die mönchische Askese. Außerdem predigte er „Gehorsam gegen die Obrigkeit und Schickung in die gegebene Lebenslage“ (Max Weber, Bd. 1, S. 72).
Für den sich entwickelnden Kapitalismus waren das ganz gute Voraussetzungen, aber sie reichten nicht. Die auf Luther folgenden Reformbestrebungen – insbesondere der Calvinismus – waren da schon besser abgestimmt. Denn im Calvinismus wird geglaubt, dass Rettung oder Verdammung vorbestimmt (prädestiniert) seien, dass aber jeder Gläubige sich so verhalten soll, als wäre er ein Auserwählter. Er wird angehalten, sich zum „selbstgewissen Heiligen“ zu erziehen. Da er aber nicht sicher sein kann und auch niemandem von seiner Angst erzählen darf -es wäre ein Eingeständnis seiner Verworfenheit – steht er unter gewaltigem Stress. Und da Gott dem Auserwählten schon in diesem Erdenleben alles Gute gönnt, steht er unter Erfolgszwang, um zu vermeiden, für verdammt zu gelten….
Übrigens spricht Weber nicht von Ursache-Wirkung, sondern von Korrespondenz der beiden Phänomene Protestantismus und Kapitalismus. Und so weit will ich es denn auch gelten lassen. Denn einen kausalen Zusammenhang kann ich nicht erkennen: Der Glaube, wenn er als Glaube an die Gnade Gottes oder gar als Prädestination definiert ist, ist weder rational noch hilft er, Berge zu versetzen und auch nicht, eine Fabrik zu gründen und Kapital anzuhäufen. Vielleicht aber sind sowohl die gläubigen Protestanten als auch die Kapitalisten und überhaupt alle Anhänger einer monotheistischen Religion Opfer einer kollektiven Zwangsneurose, von der Sigmund Freud in seinem letzten großen Buch „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“ spricht (1934-39). Siehe auch:
Jan Assmann: Zwangsneurose oder Fortschritt in der Geistigkeit. Zu Freuds Religionskritik
Die Legearbeiten habe ich mit Maries Schnipseln gemacht.

Ja, da stimme ich mit vielem überein …
LikeGefällt 1 Person
Danke, Myriade. Und womit stimmst du, womit weniger oder nicht überein?
LikeLike
Da sind viele interessante Denkanstöße dabei!
LikeGefällt 1 Person
das freut mich, Marion. Welche wohl?
LikeGefällt 1 Person
Zum Beispiel, ob Glauben jetzt Handeln verhindert oder es im Gegenteil gerade begünstigt!
LikeLike
Bei der höchsten Stufe fängst Du an und steigst dann Stufe um Stufe hinab, wohl als Spiegel der Menschheitsgeschichte.
Am Ende sehe ich nur eine Dialektik, die sich für unschlagbar hält. Was bleibt am Ende? Das anfangs Gute zerbröselt.
Am besten fängt man wohl beim Anfang wieder an, um dann eine aufwärtsführende Richtung einzuschlagen. So mein erster Eindruck.
Aber wer weiß? Manche können besser mit den Bruchstücken umgehen. Dann arbeitet man sich aus dem Trümmerhaufen langsam wieder heraus.
Vielleicht ist das sogar der bessere Weg, weil er über die Erfahrung zur Erkenntnis führt.
LikeLike
Danke, Gisela, für deinen schönen Kommentar! Du magst Recht haben.
LikeLike
Ist Glaube nicht so etwas wie der Kauf einer Tüte Luft?
LikeLike
wenn du das glaubst, ist es für dich so, lieber Werner.
LikeLike
Danke für Deine guten Worte, Gerda. Du stimmst meine Worten also zu?
LikeLike
Ich ziehe sie in Betracht, Gisela.
LikeLike
Immerhin.
LikeGefällt 1 Person
Den Zusammenhang zwischen Kapitalismus und diversen Zweigen der evangelischen Religion sehe ich sehr gut. Schließlich sind die US-Amerikaner großteils Nachfahren sehr religiöser, teilweise fanatischer Gruppierungen für die arbeiten zu spiritueller Erfahrung zu gehören scheint
Was den „Glauben“ betrifft, so kann ich schon mit dem Wort wenig anfangen geschweige denn mit den Inhalten.
Dass es bei den „Alten“ Griechen kein Wort für „Glauben“ geben soll, finde ich sehr interessant und wert es zu recherchieren.
LikeGefällt 1 Person
Herzlichen Dank für deine Antwort. Die Aussage über „glauben“ im alten Griechenland habe ich korrigiert. Kannst du die korrigierte Fassung aufmachen?
LikeGefällt 1 Person
Ja, habe ich gesehen, danke!
LikeLike