Reiner hat ein „Mitmachding“ initiiert. Es geht darum, jeden Tag einen Text zu einem Wort zu posten, das sich auf der Holsteiner Treppe in Wuppertal, verteilt auf 9 Absätze befindet. Es reizt mich, da mitzumachen, allerdings eher nicht mit eigenen Textproduktionen, sondern mit literarischen Assoziationen und Gedichten anderer. Ich bin gespannt, welche Texte, Gedichte, Geschichten jedes dieser Wörter in meiner Erinnerung aufleuchten lässt. All diese Erinnerungen an Gelesenes und im Gedächtnis Aufgehobenes sollen mir einen nachklingenden Teppich weben, den ich über die Stufen lege, um noch einmal hinaufzusteigen.
Heile, heile Segen,
morgen gibt es Regen,
übermorgen Schnee,
dann tut es nicht mehr weh!
Kann man heilen? Oder ist Heilen nicht vielmehr ein selbsttätiger Prozess, der stattfindet, soweit die äußeren und inneren Umstände und die Zeit es erlauben?
Die Zeit heilt alle Wunden
Nun, vielleicht nicht alle, aber ohne den Zeitfaktor heilt gar nichts – solange die Natur im Spiele ist. Genauso wenig wie etwas ohne den Zeitfaktor wächst. Du kannst die Knospe nicht zwingen, schneller zu erblühen, als es ihr inneres Zeitprogramm vorsieht, und den Schmetterling nicht, vorzeitig die Puppenhülle zu verlassen und sich zu entfalten. Genauso wenig kannst du vor der Zeit heilen das, was „seine Zeit braucht“, um heil zu werden.
Heilkunst besteht also darin, die physischen und seelischen Umstände günstig zu gestalten, um den Selbstheilungsprozess zu unterstützen.
Unser Hausarzt, bei dessen Eintreten und Stimme ich als Kind sofort das Fieber fallen fühlte, pflegte zu sagen: „Eine Grippe dauert ohne Doktor eine Woche und mit sieben Tage.“
Doch Geduld ist seltene Tugend, und so legen wir Wert auf beschleunigte Heilung, sind daher auch leicht verführbar, wenn Sofortheilung versprochen wird. Nichts überzeugte die Zeitgenossen Jesu mehr von seiner Göttlichkeit als die Wunderheilungen:
Stehe auf, gehe hin. Dein Glaube hat dir geholfen (Lukas, Kapitel 17, Vers 19)*
Oder auch die Heilung des „mondsüchtigen Knaben“, die Raffael (Raffaello Sanzio da Urbino, 1483-1520) in sein gewaltiges Bild der Transfiguration Christi integriert hat (unten rechts). Es ist das letzte Gemälde, an dem der große Renaissancekünstler arbeitete (1520).
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Ja, „Geistheilung“ berührt freilich eine andere Dimension. „Solange die Natur im Spiele ist“, sagte ich oben, braucht die Heilung ihre vorbestimmte Zeit. Transfiguration oder „Verklärung“ zeigt den noch auf der Erde wandelnden Christus Jesus befreit von den Gesetzen der Natur in seiner Geistgestalt. In dieser Gestalt haben Zeit und Raum ihre Wirksamkeit verloren.
Um diese Gestalt zu sehen und ihrer Wirkung teilhaftig zu werden, bedarf es freilich einer inneren Umwandlung, auch „Glauben“ genannt, und der fehlt uns modernen Menschen, die wir uns lieber solange auf die ärztliche Kunst verlassen, bis sie uns im Stich lässt. Im „Landarzt“ (1917) von Franz Kafka (1883-1924) – eine Erzählung, die mich immer umtreibt und mich herausfordert – heißt es:
Frank Kafka
Ein Landarzt
»Wirst du mich retten?« flüstert schluchzend der Junge, ganz geblendet durch das Leben in seiner Wunde. So sind die Leute in meiner Gegend. Immer das Unmögliche vom Arzt verlangen. Den alten Glauben haben sie verloren; der Pfarrer sitzt zu Hause und zerzupft die Meßgewänder, eines nach dem andern; aber der Arzt soll alles leisten mit seiner zarten chirurgischen Hand. Nun, wie es beliebt: ich habe mich nicht angeboten; verbraucht ihr mich zu heiligen Zwecken, lasse ich auch das mit mir geschehen; was will ich Besseres, alter Landarzt, meines Dienstmädchens beraubt! Und sie kommen, die Familie und die Dorfältesten, und entkleiden mich; ein Schulchor mit dem Lehrer an der Spitze steht vor dem Haus und singt eine äußerst einfache Melodie auf den Text:
»Entkleidet ihn, dann wird er heilen,
Und heilt er nicht, so tötet ihn!
’Sist nur ein Arzt, ’sist nur ein Arzt.«
Zitiert nach: Franz Kafka: Ein Landarzt. Projekt Gutenberg. S. 27-28
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*Anmerkung: Diese Zeile im Lukas-Evangelium wird durch ihren Kontext mehrfach beleuchtet. Was vermag der Glaube? Für einen gläubigen Menschen sind die täglichen Verrichtungen genauso geordnet wie für jeden anderen: man muss das Essen bereiten, bevor man sich hinsetzt und isst. „Von allein“ deckt sich der Tisch nur im Märchen. Worin besteht dann also die Wirkung des Glaubens? Nicht in äußeren Wundern. Jesus heilte zehn Aussätzige, aber nur einer kam zurück, dankte und und bekannte sich. Nur zu ihm sagte der Christus: „Dein Glaube hat dir geholfen“. Denn „das Reich Gottes kommt nicht mit äußerlichen Gebärden;man wird auch nicht sagen: Siehe, hier! oder: da ist es! Denn sehet, das Reich Gottes ist inwendig in euch.“


oder: „… übermorgen Sonnenschein,
dann wird es wieder besser sein.“😊🩷🌞
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Das werde ich mir wohl später alles durchlesen…
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Das Heilen ist etwas ganz Besonderes. Heilsame Hände zu haben, bedeutet, durch inniges tröstendes Handauflegen zu fühlen, wie gut Trost uns doch tut.
Uns dann kamen die Bakterien, die Viren gelaufen und hielten dagegen.
Die Ratten im Dreck der Menschen hatten schon ihr *Bestes* getan…
Der Glaube alleine half nicht mehr
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