112 Stufen, 96: Verständnis (Novalis)

Reiner hat ein „Mitmachding“ initiiert. Es geht darum, jeden Tag einen Text zu einem Wort zu posten, das sich auf der Holsteiner Treppe in Wuppertal, verteilt auf 9 Absätze befindet. Es reizt mich, da mitzumachen, allerdings eher nicht mit eigenen Textproduktionen, sondern mit literarischen Assoziationen und Gedichten anderer. Ich bin gespannt, welche Texte, Gedichte, Geschichten jedes dieser Wörter in meiner Erinnerung aufleuchten lässt. All diese Erinnerungen an Gelesenes und im Gedächtnis Aufgehobenes sollen mir einen nachklingenden Teppich weben, den ich über die Stufen lege, um noch einmal hinaufzusteigen.

Eigentlich war das Wort „Verständnis“ gestern dran. Aber so ist es eben: für das, was aktuell vorgeht, fehlt oft genug das Verständnis. Man reimt sich etwas zusammen, aber Verstehen sieht anders aus. Später ist man dann klüger. Dies „Später“ kann ein Tag, aber auch ein halbes Jahrhundert oder tausend Jahre sein. Der Verstand hechelt immer hinter den Erscheinungen hinterher, denn er muss sie erst haben und abtöten, um sie analysieren und „verstehen“ zu können.

Doch halt! Ist mit „Verständnis“ überhaupt etwas gemeint, was mit dem Verstand ergriffen wird? Handelt es sich nicht vielmehr um eine Herzensfähigkeit? Man sieht nur mit dem Herzen gut, meint Saint-Exupéry, und seither haben unzählige Menschen dazu mit dem Kopf genickt, gelächelt und gesagt: Ja, so ist es. Verständnis hat das Herz, nicht der Kopf.

Da fällt mir ein Gedicht von Novalis ein, der den Schlüssel für wahres Verständnis des Weltgeschehens nicht in „Zahlen und Figuren“, sondern in „Märchen und Gedichten“ sieht. Es stammt aus dem Romanfragment „Heinrich von Ofterdingen“ – ein Buch, das mich oft begleitet hat und dem ich viel verdanke.

Novalis (1772 – 1801)

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
sind Schlüssel aller Kreaturen
wenn die, so singen oder küssen,
mehr als die Tiefgelehrten wissen,
wenn sich die Welt ins freie Leben
und in die Welt wird zurückbegeben,

wenn dann sich wieder Licht und Schatten
zu echter Klarheit werden gatten
und man in Märchen und Gedichten
erkennt die wahren Weltgeschichten,
dann fliegt von einem geheimen Wort
das ganze verkehrte Wesen fort.

Novalis, eigentlich Georg Philipp Friedrich von Hardenberg, Sprössling einer kleinen sächsischen Adelsfamilie, absolvierte zunächst ein Jura-Studium, das er mit 22 Jahren abschloss. Mit 25 Jahren (1797) schrieb er sich dann in der Bergbau-Akademie von Freiberg ein. Die Studienfächer reichten von Mineralogie, Chemie und Physik über Mathematik, Elektrizität und Medizin bis hin zu Naturphilosophie. Er war einer der wenigen Dichter – und sicher der einzige Romantiker -, der nicht nur eine nach damaligen Maßstäben gründliche naturwissenschaftliche Bildung erwarb, sondern auch in einem entsprechenden Beruf, nämlich als Direktor von Salzbergwerken in Sachsen und in Thüringen arbeitete. Er starb bereits mit 28 Jahren.

Der Roman „Heinrich von Ofterdingen“ (1802 posthum von Friedrich Schlegel veröffentlicht) hatte für mich eine große Anziehungskraft, weil Novalis die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse geisteswissenschaftlich und poetisch interpretiert und so Brücken zwischen sehr verschiedenen Verstehensformen schafft, die dann im immer prosaischer werdenden 19. Jahrhundert kaum noch begangen und schließlich eingerissen wurden. Ihren Trümmern spüre ich immer noch nach und versuche, sie neu zusammen zu fügen, um ein tieferes Verständnis von Welt und Mensch zu gewinnen.

 

 

 

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About gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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3 Responses to 112 Stufen, 96: Verständnis (Novalis)

  1. Ich glaube, hier versteckt sich in der Fülle wieder so manches Wahrheitskörnchen…..

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  2. Ich glaube, dass zwischen Verstehen und Verständnis haben ein klaftertiefer graben ist. Ich begreife vieles, aber für anderes habe ich einfach kein Verständnis.

    So vieles liegt um Vergangenen verborgen und um es verstehen zu können, muss man auch um die menschliche Seele wissen …

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