112 Stufen, 82: Schuld (Vaterunser, Karl Stamm)

Reiner hat ein „Mitmachding“ initiiert. Es geht darum, jeden Tag einen Text zu einem Wort zu posten, das sich auf der Holsteiner Treppe in Wuppertal, verteilt auf 9 Absätze befindet. Es reizt mich, da mitzumachen, allerdings eher nicht mit eigenen Textproduktionen, sondern mit literarischen Assoziationen und Gedichten anderer. Ich bin gespannt, welche Texte, Gedichte, Geschichten jedes dieser Wörter in meiner Erinnerung aufleuchten lässt. All diese Erinnerungen an Gelesenes und im Gedächtnis Aufgehobenes sollen mir einen nachklingenden Teppich weben, den ich über die Stufen lege, um noch einmal hinaufzusteigen.

Im Nachkriegs-Deutschland hat der Schuldbegriff eine ganz besondere Wendung genommen: als Kollektivschuld des gesamten Volkes, in dessen Namen schreckliche Verbrechen begangen wurden. Aber bevor mir das bewusst wurde, kam ein anderer Schuldbegriff in mein Leben:

„Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“.

Immer rätselte ich, was das für „Schuldiger“ sein sollten, denen ich zu vergeben hätte, damit auch mir meine „Schuld“ vergeben werde. Bis ich die griechische Urfassung des Gebets kennenlernte. Da heißt es

καὶ ἄφες ἡμῖν τὰ ὀφειλήματα ἡμῶν, ὡς καὶ ἡμεῖς ἀφίεμεν τοῖς ὀφειλέταις ἡμῶν· 

Und das heißt, wörtlich übersetzt:

„und erlasse uns das, was wir schulden, so wie wir auch das erlassen, was andere uns schulden.“ 

Das klingt nach Geldschulden und ganz anders als das moralischen Wort „Schuld“ etwa im Harfnerlied: „Ihr lasst die Armen schuldig werden, dann überlasst ihr sie der Pein:/ denn alle Schuld rächt sich auf Erden“ (Goethe, Wilhelm Meister, siehe hier)

Seit Griechenland 2010 in die sog. „Staatsschuldenkrise“ geriet, wurde hier der Begriff der Seisachtheia sehr viel diskutiert. Ein Schuldenerlass oder zumindest ein ordentlicher Schuldenschnitt seien erforderlich, um die griechische Gesellschaft zu entlasten.

Die Seisachtheia (wörtlich: Abschütteln der Bürde) wurde 594 v. Chr. vom attischen Gesetzgeber Solon (638–558) eingeführt. Darunter versteht man drei Gesetze, durch welche 1) die persönliche Schuldknechtschaft aufgehoben und die Freigebung der wegen Schulden in Leibeigenschaft geratenen sowie der Freikauf der nach auswärts verkauften Athener auf Staatskosten angeordnet, 2) durch Herabsetzung des Münzfußes (100 neue Drachmen waren an Silberwert gleich 70 alten) die Rückzahlung der Schulden erleichtert und 3) der Zinsfuß ermäßigt wurde.(zitiert nach Wikisource)

Tatsächlich handelte es sich also nur um Schulden-Erleichterung, nicht um einen vollständigen Erlass. Ziel war, die Bauern, die entweder gegen Abtretung von 1/6 ihrer Ernte oder mithilfe von geliehenem Geld die Ländereien der reichen Athener bestellten, vor extremer Not und Sklaverei zu schützen. Um diese Entlastung zu erreichen, verordnete Solon, dass die silberne Drachme in regelmäßigen Zeiutabständen um ein Viertel verkleinert wurde. Entsprechend justiert wurden die Maße und Waagen. Solon verbot auch die beim Geldverleihen zuvor übliche Formel επί τοις σώματι δανείζεσθαι (du leihst mit deinem Körper als Hypothek), was den freien Bürger oder seine Anverwandten bei Nichtbegleichen der Schulden zum Unfreien machte.

Die Bitte „Vergib uns unsere Schulden“ sowie die Entsprechung „wie auch wir vergeben denen, die uns schulden“ im Vaterunser sind dieser Erfahrung im ökonomisch-menschlichen Zusammenleben nachgebildet. Jesus, der das Gebet stiftete, verwendete auch sonst Gleichnisse aus dem Wirtschaftsleben (zB Du sollst mit deinen Talenten wuchern, nacherzählt hier).

Und wenn wir ehrlich sind: das Erlassen von Schulden oder die Rückzahlung von ererbten Schulden fällt Menschen und Staaten verdammt viel schwerer als sich moralischer Schuld zu stellen. Denn leicht ist gesagt: ich entschuldige mich, und schwer fällt es, Schulden zu begleichen oder zu erlassen. Zum Beispiel: Deutsche Staatshäupter standen mit gesenktem Haupt an Erinnerungsorten, um sich für die Gräuel der NS-Besatzung zu entschuldigen, aber wenns an die Rückzahlung  erzwungener Anleihen ging, hieß es: Nix da. Wiedergutmachung? Ach was.

Dasselbe überall. Das Thema ist aus der Nach-Kolonialzeit nicht mehr wegzudenken. Braucht der Globale Süden (wieder) einen Schuldenschnitt? fragt zB die Wirtschaftswoche vom 6.6. dieses Jahres. Und erlassjahr.de  erinnert an die Entschuldung der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen des Londoner Schuldenabkommens (27. Februar 1953), die es der jungen BRD erlaubte, wirtschaftlich wieder auf die Füße zu kommen. Ein Insolvenzverfahren auch für Staaten könnte helfen, dass nicht Generation um Generation in der Schuldenknechtschaft gefangen bleibt und keinen lichten Morgen sieht.

img_2671

Kleiner Sisyphos -Illustration zur griechischen Staatsschuldenkrise und den Gläubigern)

Über all dem möchte ich den ebenso wichtigen moralischen Schuldbegriff nicht aus dem Auge verlieren. Und so schließe ich hier mit einem Gedicht von Karl Stamm (1890-1919), das ich schon einmal zitierte und kommentierte (hier). Es ist der verzweifelte Ruf eines jungen Menschen, der fürchtet, schuldig zu werden, indem er einen anderen jungen Menschen tötet.

Sieh auf uns, die wir deine Kinder sind

Sieh auf uns, die wir deine Kinder sind!
Du streutest milde Worte über Land,
dir neigten sich die Lilien, Frauen, Ähren –
uns drückten sie die Waffen in die Hand.

Und sind doch Kinder, zucken manchmal irr –
Was soll in meinen Händen das Gewehr?
Des Menschen Mutter, dem die Kugel gilt,
verhält die bittre Tränenflut nicht mehr.

Und über mir der harte, dumpfe Zwang. …
Bin ich nur Tier, gespannt in hartes Joch?
Zerstampfe auf Befehl? O Herz, erwach!
Wir taumeln, zögern – und marschieren doch.

Des Menschen Mutter, dem die Kugel gilt,
O nimm zurück den hingegebnen Sohn!
Erspare mir die Schuld und dir die Qual!
Du kannst nur weinen? Weinen lacht mir Hohn.

O Feind, mein Feind! Ich fleh aus tiefster Not:
Geliebter Feind, daß ich nicht schuldig sei
ermorde mich! Erlöse mein Gewissen!
So nimmst du von mir meiner Seele Schrei.

Du zauderst, senkst den schon erhobnen Arm?
Entflieht aus deinem Leib des Kämpfers Kraft?
Ist’s Furcht vor eigner, drohend naher Schuld?
Ruft dich die Seele auf zur Bruderschaft?

Entwaffnet steh ich vor dir, blicke weit
und bin verkämpft in Sinn und Widersinn:
Es glaubt das Herz nicht, was das Auge schaut,
weil ich noch nicht zum Kind geworden bin.

O brich aus mir, ersehntes Bruder-Ich!
Erschwing, ersinge dich und werde Ton.
Es steigt das Kreuz unendlich auf ins Licht.
Durch seine Himmel schwebt der Menschensohn.

 

 

 

 

 

Avatar von Unbekannt

About gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
Dieser Beitrag wurde unter Allgemein, Ökonomie, Dichtung, die griechische Krise, Geschichte, Katastrophe, Legearbeiten, Meine Kunst, Politik, Psyche, Stufen Blog-Challange abgelegt und mit , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

7 Responses to 112 Stufen, 82: Schuld (Vaterunser, Karl Stamm)

  1. Bundesfinanzministerium – Deutsche Schuldenforderungen und Schuldenerlasse im Überblick

    Tröpchenweise funktioniert es ja, aber unter der neuen eigenen Schuldenlast wird der Hahn wohl in Zukunft ganz abgedreht werden.

    Und danke für das angefügte Gedicht, das sehr nachdenklich macht und im Grunde viel mehr persönliche Entscheidung verlangt, so wie von Reinhard Mey gefordert:

    Gefällt 1 Person

  2. Bundesfinanzministerium – Deutsche Schuldenforderungen und Schuldenerlasse im Überblick

    Ein wenig ist ja schon getröpfelt, aber bei der Krisenlage wird der Hahn wohl ganz abgedreht werden.

    Danke für das Gedicht. Es sollte für uns alle eine Aufforderung sein, es Reinhard Mey nachzutun:

    Gefällt 1 Person

  3. Schuld und Schulden, wie kämen wir je aus dem Schuld-und Schuldenberg heraus, Gerda?
    Verzeihen ist nicht schlecht, aber was wäre denn, wenn der Mensch nicht so boshaft und aufbrausend in seinen Genen wäre? Wenn die Gemeinheit nicht wäre?
    Wäre die Erde nicht schon lange überbevölkert oder etwa ausgerottet von einem Nichterdenvolk, das diese Gene noch hat?

    Eine Kollektivschuld empfinde ich nicht, empfand ich noch nie, aber immer ein riesiges Unverständnis, wie es überhaupt dazu kommen konnte …
    Ich begreife diese grausigen Taten nicht.

    Und es gab so viele Menschen, die es tatsächlich nicht mal wußten, Gerda.
    Die Menschen in kleinen Dörfern hatten meist keine Radioempfänger und ihre Not, die Familie mit den vielen Kindern zu ernähren, so wie meine Oma.
    Der Mann im Krieg, der Älteste auch, später vermisst in Russland. Meine Mutter, schon älter als die Kleinen, sorgte für Evakuierung in einen Teil des Landes, der sorgenfreier schien. Man sprach über die Not der Familie, da hatte man schon reichlich zu tun.
    Bis ein Schwager, bei der Eisenbahn beschäftigt, SAH, was da geschah und es erzählte, weinend und hilflos…

    Nein, ich fühlte nie diese Kollektivschuld des Volkes

    Gefällt 1 Person

    • Avatar von gkazakou gkazakou sagt:

      Da hast du Glück gehabt, liebe Bruni.Ich konnte mich sehr lange nicht frei davon machen, zumal ich schon sehr früh viel im benachbarten Ausland war und dort immer den seelischen Spuren der deutschen Besatzung begegnete. Die Frage, die du aufwirfst, ist, ob es auch individuelle Schuld, durch Mitwissen und Nichtstun, gab, und du verneinst sie im Falle deiner Verwandten. Das finde ich richtig, denn niemals möchte ich der Ankläger sein gegen Menschen, die selbst so viel durchgemacht haben.-

      Gefällt 1 Person

  4. Auf jeden Fall eine furchtbare zeit, liebe gerda

    Like

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..