112 Stufen, 87: Schweigen (Johann Wolfgang von Goethe, Georg Trakl)

Reiner hat ein „Mitmachding“ initiiert. Es geht darum, jeden Tag einen Text zu einem Wort zu posten, das sich auf der Holsteiner Treppe in Wuppertal, verteilt auf 9 Absätze befindet. Es reizt mich, da mitzumachen, allerdings eher nicht mit eigenen Textproduktionen, sondern mit literarischen Assoziationen und Gedichten anderer. Ich bin gespannt, welche Texte, Gedichte, Geschichten jedes dieser Wörter in meiner Erinnerung aufleuchten lässt. All diese Erinnerungen an Gelesenes und im Gedächtnis Aufgehobenes sollen mir einen nachklingenden Teppich weben, den ich über die Stufen lege, um noch einmal hinaufzusteigen.

Eine unvergleichliche Perle unter den Gedichten fällt mir sogleich zum Wort „Schweigen“ ein. Goethe schrieb es vermutlich am Abend des 6. September 1780 mit Bleistift an die Holzwand einer Jagdaufseherhütte auf dem Kickelhahn bei Ilmenau. Er war damals 31 Jahre alt. An einem Tag wie heute – am 27. August des Jahres 1831 – suchte er die Hütte erneut auf, um das kleine Gedicht noch einmal zu lesen, und er weinte. So berichtete der Berginspektor und Geologe Johann Christian Mahr, der ihn auf diesem letzten Weg hinauf zur Hütte begleitete. Es war der Tag vor seinem 83. Geburtstag. Ein halbes Jahr später würde er sterben.  

Was ist das Besondere dieses Gedichts? Es lässt den Blick in einem großen umfassenden Bogen schweifen von der hochragenden mineralischen Struktur der Berge hinunter zur lebendigen Welt der Pflanzen und deren Bewohnern, den Vögeln, hin ins Innere der Menschenseele, die die tiefe Verbundenheit mit den drei Naturreichen fühlt und sich dieser Grundstimmung im „du auch“ vergewissert.

Jetzt ist Mitternacht vorbei – und Goethes Geburtstag: der 28. August. Auch ich gehe nun auf meinen Turm, um unter dem Sternenzelt zu ruhen. Gute Nacht allseits!

 

Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832)

Wandrers Nachtlied

Über allen Gipfeln
Ist Ruh‘,
In allen Wipfeln
Spürest Du
Kaum einen Hauch;
Die Vögel schweigen im Walde.
Warte nur! Balde
Ruhest du auch.

 

 

Bevor ich hier nun wirklich Schluss mache, fällt mir noch ein anderes poetisches Juwel zum „Schweigen“ ein, dieses Mal von Georg Trakl: Verklärter Herbst (1913)

Verklärter Herbst

Gewaltig endet so das Jahr
Mit goldnem Wein und Frucht der Gärten.
Rund schweigen Wälder wunderbar
Und sind des Einsamen Gefährten.

Da sagt der Landmann: Es ist gut.
Ihr Abendglocken lang und leise
Gebt noch zum Ende frohen Mut.
Ein Vogelzug grüßt auf der Reise.

Es ist der Liebe milde Zeit.
Im Kahn den blauen Fluß hinunter
Wie schön sich Bild an Bildchen reiht –
Das geht in Ruh und Schweigen unter.

 

Die Legebilder machte ich für das Kinderbuch Tiu-Tui, das im eichhörnchenverlag erschien (https://gerdakazakou.com/2018/02/20/vorankuendigung-zu-meinem-tui-tiu-kinderbuch/)

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About gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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2 Responses to 112 Stufen, 87: Schweigen (Johann Wolfgang von Goethe, Georg Trakl)

  1. Ich habe dieses wunderhübsche Bilderbüchlein verschenkt, liebe Gerda, aber die Bilder darin kenne ich alle noch und liebe sie sehr!

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