112 Stufen, 81: Standhaft (Schiller)

Reiner hat ein „Mitmachding“ initiiert. Es geht darum, jeden Tag einen Text zu einem Wort zu posten, das sich auf der Holsteiner Treppe in Wuppertal, verteilt auf 9 Absätze befindet. Es reizt mich, da mitzumachen, allerdings eher nicht mit eigenen Textproduktionen, sondern mit literarischen Assoziationen und Gedichten anderer. Ich bin gespannt, welche Texte, Gedichte, Geschichten jedes dieser Wörter in meiner Erinnerung aufleuchten lässt. All diese Erinnerungen an Gelesenes und im Gedächtnis Aufgehobenes sollen mir einen nachklingenden Teppich weben, den ich über die Stufen lege, um noch einmal hinaufzusteigen.

Das Lied von der Glocke gehörte zu meiner Schulzeit noch unangefochten zum Bildungskanon, und so fielen mir bei „standhaft“ die Anfangszeilen ein:

Fest gemauert in der Erden
Steht die Form, aus Lehm gebrannt.

Für mich ist dieses Großgedicht der Inbegriff des deutschen Bürgertums, das sich zu der Zeit, als Schiller es (1799) veröffentlichte, aus dem zerfallenden feudalen Staat herauslöste und eine eigene unverwechselbare Physiognomie ausbildete. Nun ist auch dieses Bürgertum längst im Zerfall begriffen. Meine Generation („68er“) arbeitete fleißig daran mit, ihm weitere Risse zuzufügen, und ich kann immer noch nur einzelne Züge der sich daraus hervorarbeitenden Form erkennen.

Nun zerbrecht mir das Gebäude,
Seine Absicht hat’s erfüllt,

Der Meister kann die Form
zerbrechen
Mit weiser Hand, zur rechten Zeit,
Doch wehe, wenn in Flammenbächen
Das glühnde Erz sich selbst befreit!

Das Gedicht ist zweigeteilt: Da gibt es einerseits die Arbeitsstrophen, in denen Schiller die vorindustrielle Technik des Glockengießens liebevoll und kenntnisreich beschreibt – da gibt es andererseits die Betrachtungsstrophen, in denen er die jeweilige Phase des Glockengießens ins Allgemein-Menschliche erweitert. Während die erste Abteilung wenig beachtet wurde, vermutlich, weil schon bald niemand mehr am Glockengießen interessiert war, wurde die zweite Abteilung zur Bibel der Bourgoisie und zum Spott so mancher  Zeitgenossen. So mokierte sich Friedrich Schlegel (1772-1829): „Ach wie gefällt die „Glocke“ dem Volk und „die Würde der Frauen“! Weil im Takt da klingt alles, was sittlich und platt.“ 

Wenn ich an die „Glocke“ denke, denke ich an meine Oma Martha („Martha, Martha, du entschwandest, und mit dir mein Portemonnaie“), die voller Kalauer war, die an ihrem Mädchen-Lyzeum zirkulierten (sie wurde 1885 geboren). „Die Glocke“ bot sich mit ihren platt verallgemeinernden Sittensprüchen herrlich für derlei Verballhornungen an.  „Er zählt die Häupter seiner Lieben /und sieh, es sind statt sechse sieben / das siebte hat vergangne Nacht / der Klapperstorch dazu gebracht.“ Im Grunde aber teilten die  bürgerlichen Mädchen und Frauen durchaus das Menschenbild, das Schiller in dem Gedicht entwickelt.

Das Gedicht ist zu lang, um es hier ganz zu zitieren, aber die in meiner Schulzeit zirkulierende Kurzform reicht mir auch nicht.

Loch in Erde,
Bronze rin.
Glocke fertig,
bim, bim, bim.

Ein paar charakteristische Stellen, die in meiner Kindheit quasi zu Alltags-Sprüchen gehörten und teilweise wohl immer noch gehören, müssen noch sein.

Wohlthätig ist des Feuers Macht,
Wenn sie der Mensch bezähmt, bewacht…

Gefährlich ist’s den Leu zu wecken,
Verderblich ist des Tigers Zahn,
Jedoch der schrecklichste der Schrecken
Das ist der Mensch in seinem Wahn.

Arbeit ist des Bürgers Zierde,
Segen ist der Mühe Preis,
Ehrt den König, seine Würde,
Ehret uns der Hände Fleiß.

Wo rohe Kräfte sinnlos walten / da kann sich kein Gebild gestalten.

Da werden Weiber zu Hyänen / und treiben mit Entsetzen Scherz

Oder auch die Einzeiler:

  • „Denn das Auge des Gesetzes wacht“
  • „Der Mann muss hinaus ins feindliche Leben“
  • „Ach! die Gattin ist’s, die Theure!“
  • „Die Jahre fliehen pfeilgeschwind“
  • „Doch der Segen kommt von oben“
  • „Es schwelgt das Herz in Seligkeit“
  • „Gefährlich ist’s, den Leu zu wecken“
  • „O zarte Sehnsucht, süßes Hoffen, der ersten Liebe goldne Zeit“
  • „Von der Stirne heiß rinnen muß der Schweiß“
  • „Wehe, wenn sie losgelassen!“
  • „Wo rohe Kräfte sinnlos walten“
  • „Drinnen waltet die züchtige Hausfrau“
  • „Errötend folgt er ihren Spuren“
  • „Drum prüfe, wer sich ewig bindet, ob sich das Herz zum Herzen findet“
  • „Der Wahn ist kurz, die Reu’ ist lang“
  • „Doch mit des Geschickes Mächten ist kein ew’ger Bund zu flechten“

Im Jahre 1966 – ich war damals 24 – erschütterte Hans Magnus Enzensberger die Gemüter: er hatte „Die Glocke“ aus der Insel-Edition einer Auswahl von Schillers Gedichten verbannt. Seine Begründung: „Zwischen dem eigentlichen Glockengießerlied und jenem Teil des Gedichts, den ich ‚Kommentar‘ nenne, zeigt sich, formal und substantiell, ein extremes Niveaugefälle. Auf der einen Seite äußerste Ökonomie, auf der anderen uferlose Sprüche; feste rhythmische Form, lustlose Reimerei; strikte Kenntnis der Sache, unverbindliche Ideologie; verschwiegene Einsicht, plakatierte Trivialität; Größe in der Beschränkung, aufgehäufter Plunder. An der Unvereinbarkeit des einen mit dem andern scheitert das Gedicht.“ (zitiert nach Wikipedia)

Nun, wie auch immer. Es gibt kaum ein deutsches Gedicht, das dem deutschen Gemüt und Sprachgefühl des 19. Jahrhunderts so gut gedient hat wie dieses Gedicht. Und so möchte ich Reich-Ranicki Recht geben, wenn er Enzensbergers Wahl kritisierte: „‚Die Glocke‘ oder ‚die Bürgschaft‘, Dichtungen also, aus denen das deutsche Bürgertum seine Lebensmaximen anderthalb Jahrhunderte lang zu beziehen gewohnt war, haben es – wie immer man diese Verse beurteilen mag – auf jeden Fall verdient, dem zweiten oder, meinetwegen, dem hundertsten Blick ausgesetzt zu werden. Ein Herausgeber, der diese und ähnliche Balladen kurzerhand entfernt, macht sich, befürchte ich, seine Aufgabe zu leicht: Statt das überkommene Schiller-Bild zu korrigieren, ignoriert er es. Statt zu revidieren, liquidiert er.“

 

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About gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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4 Responses to 112 Stufen, 81: Standhaft (Schiller)

  1. Da gibt es wohl eine Menge aufzuarbeiten …Das geht sicher nicht so schnell, braucht Zeit.

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  2. Einfach löschen, was man nicht mag , klingt nicht gut in meinen Ohren, Gerda

    aber die Zeilen

    Loch in Erde,
    Bronze rin.
    Glocke fertig,
    bim, bim, bim.

    Finde ich echt gut. Klingt frech und jugendlich forsch 🙂

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  3. Mir gefällt die Kurzfassung guuuuut! 🙂

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