Reiner hat ein „Mitmachding“ initiiert. Es geht darum, jeden Tag einen Text zu einem Wort zu posten, das sich auf der Holsteiner Treppe in Wuppertal, verteilt auf 9 Absätze befindet. Es reizt mich, da mitzumachen, allerdings eher nicht mit eigenen Textproduktionen, sondern mit literarischen Assoziationen und Gedichten anderer. Ich bin gespannt, welche Texte, Gedichte, Geschichten jedes dieser Wörter in meiner Erinnerung aufleuchten lässt. All diese Erinnerungen an Gelesenes und im Gedächtnis Aufgehobenes sollen mir einen nachklingenden Teppich weben, den ich über die Stufen lege, um noch einmal hinaufzusteigen.
Als ich heute das Auto durch den dichten Autobahn-Verkehr Richtung Athen steuerte, wurde mir langweilig, und so sang ich mir etwas vor. Was war es, das mir einfiel?
Als die Treue ward geborn
kroch sie in ein Jägerhorn,
der Jäger blus sie in den Wind
daher man keine Treu mehr find.
Das Lied ist ein echter Ohrwurm. Es stammt aus dem Einakter „Die Kluge“ von Carl Orff (1895-1982), der 1943 in Frankfurt am Main uraufgeführt wurde. Das Libretto geht auf ein bekanntes Grimmsches Märchen zurück.
Die kleine Oper war sofort ein Riesenerfolg. Merkwürdig mutet es an, dass die Verulkung der „Treue“, die den Nazis ein so hehres Wort war (u.a. der SS-Treueschwur „Meine Ehre heißt Treue“), dem Komponisten keinen Ärger einbrachte. Auch andere Textstellen waren brisant, etwa diese: „Denn wer viel hat, hat auch die Macht, und wer die Macht hat, hat das Recht, und wer das Recht hat, beugt es auch! Denn über allem steht Gewalt.“ oder „Veritas ist gen Himmel flogen, Treu und Ehr sind übers Meer gezogen, Tyrannis führt das Szepter weit“ oder „Tugend ist des Lands vertrieben, Untreu und Bosheit sind verblieben“.
Vielleicht hatten die Nazi-Bonzen anderweitig zu tun, vielleicht wollten sie das Volk, das dringend etwas zum Lachen brauchte, nicht frustrieren, vielleicht verstanden sie den Mutterwitz nicht….Vielleicht war ihnen auch daran gelegen, den von den Nazis hoch geschätzten Komponisten nicht zu vergrämen. Jedenfalls gab es keinerlei Beanstandungen. Und auch im Nachkriegs-Deutschland erfreute sich die kleine Oper großer Beliebtheit.
Im internet fand ich eine hübsche Inszenierung mit Marionetten. Das Lied findet sich bei 52.14 des Videos.


Schau, schau, das ist durch die Nazi-Zensur gerutscht. Erstaunlich !
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Das ist gar nicht so erstaunlich. Denn natürlich bezogen es die machthabenden Schurken nicht auf sich! Welcher Schuft hätte sich je im Spiegel als das erkannt, was er war?
Und die Pervertierung an und für sich ehrenwerter Begriffe wie etwa der Treue war damals (und heute) wie bei Orwell weit gediehen, man konnte Verträge brechen ohne mit der Wimper zu zucken, die Anhänger jubelten (man setze bei Belieben Gegenwartsformen ein) und erkannten den Treuebruch nicht.
Dabei ist Treue gut wie so vieles, was gern in den Wind geblasen wird.
Treue zum Partner etwa. Eine gute Sache. Vor allem, wenn sie auf Gegenseitigkeit beruht.
Heute wird bereits wieder eine begeisterte, aber nicht näher definierte Liebe und Treue zum Vaterland gefordert. Öffentlich, im Fernsehen! Wäre es nicht notwendig, das Land klarer zu defnieren? Ist es, nur beispielsweise und weil es so klein ist, das Saarland? Oder ist es Europa? Das politisch verbundene, die EU? Oder mal anders gefragt: Gehört hierhin auch die Treue zur Verfassung der Bundesrepublik Deutschland (mit allem, was da mal drinstand und steht, so Sätze wie „die Bundesrepublik Deutschland gewährt Asyl,“ „Eigentum verpflichtet“ und so manches mehr). Ja, das wird wieder Treue eingefordert ohne genauer zu sagen, wozu überhaupt!
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Ein wundervolles Werk, mit einem noch tolleren Text, liebe Gerda.
Ich habe genau hingehört und wieder mal gewußt, wie wenig ich doch weiß …
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Wer weiß schon viel. Alles Wissen ist Stückwerk.
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