Reiner hat ein „Mitmachding“ initiiert. Es geht darum, jeden Tag einen Text zu einem Wort zu posten, das sich auf der Holsteiner Treppe in Wuppertal, verteilt auf 9 Absätze befindet. Es reizt mich, da mitzumachen, allerdings eher nicht mit eigenen Textproduktionen, sondern mit literarischen Assoziationen und Gedichten anderer. Ich bin gespannt, welche Texte, Gedichte, Geschichten jedes dieser Wörter in meiner Erinnerung aufleuchten lässt. All diese Erinnerungen an Gelesenes und im Gedächtnis Aufgehobenes sollen mir einen nachklingenden Teppich weben, den ich über die Stufen lege, um noch einmal hinaufzusteigen.
Bei dem Wort „Güte“ fallen mir spontan das „Täglich Brot“, die Bibel und …. Bertold Brecht ein.

Das Brot des Bäckers, Kugelschreiber-Zeichnung
Da ist als erstes das Vaterunser, dem, so erinnere ich mich aus meiner Kindheit, ein Satz nachgestellt wurde, der eigentlich nicht dahin gehört, sondern aus einem Psalm** stammt:
Danket dem Herrn, denn er ist freundlich und seine Güte währet ewiglich.
Martin Luther liebte die Psalmen, und diese Stelle liebte er wohl ganz besonders, denn in seinen Anweisungen zu täglichen Gebeten ist die „Güte“ des Vaters ein zentrales Motiv.
Der Vater ist gut – und nur der Vater. Als ein Mann Jesus mit „guter Meister“ ansprach, antwortete er:
„Was nennst du mich gut? Niemand ist gut als Gott allein!„
***
Der Satz von Gottes Güte ist für mich eng verbunden mit der Bitte um „unser täglich Brot“, und das ist auch die Brücke zu Bertold Brecht, dem dieses „täglich Brot“ und die „fehlende Güte“ der Menschen sehr am Herzen lag. In seinem Werk kehrt dieses Motiv immer wieder, beginnend mit der 3-Groschen-Oper, wo der Bettlerkönig Peachum singt:
Peachum (mit der Bibel in den Händen)
Das Recht des Menschen ist’s auf dieser Erden
Da er doch nur kurz lebt, glücklich zu sein
Teilhaftig aller Lust der Welt zu werden
Zum Essen Brot zu kriegen und nicht einen Stein.
Das ist des Menschen nacktes Recht auf Erden.
Doch leider hat man bisher nie vernommen
Dass einer auch sein Recht bekam – ach wo!
Wer hätte nicht gern einmal Recht bekommen
Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so.
(…)
Ein guter Mensch sein! Ja, wer wär’s nicht gern?
Sein Gut den Armen geben, warum nicht?
Wenn alle gut sind, ist Sein Reich nicht fern
Wer sässe nicht sehr gern in seinem Licht?
Ein guter Mensch sein? Ja, wer wär’s nicht gern…
***
Das Drama „Der gute Mensch von Sezuan“ schrieb Brecht zwischen 1938-40. Als eine der Quellen benutzte er den griechischen Mythos von Philemon und Baucis, nachzulesen in Schwabs Sagen des klassischen Altertums, in der Ausgabe von 1881, wo der herausgeber Gotthold Klee auch diese Sage hinzufügte. (Quelle: Projekt Gutenberg)
Philemon und Baucis (nacherzählt nach Ovids Darstellung in den „Metamorphosen„)
Auf einem Hügel im Lande Phrygien steht eine tausendjährige Eiche (….) Einst kam in diese Gegend Vater Zeus mit seinem Sohne Hermes (…). In menschlicher Gestalt wollten sie die Gastlichkeit der Menschen versuchen; darum klopften sie an tausend Türen, um ein Obdach für die Nacht bittend. Aber hart und selbstsüchtig war der Sinn der Bewohner, so daß die Himmlischen nirgends Einlaß fanden. Siehe, da stand ein Hüttchen am Ende des Dorfes, niedrig und klein nur, mit Stroh und Sumpfrohr gedeckt; aber im ärmlichen Hause wohnte ein glückliches Paar, der biedre Philemon und Baucis, sein gleichaltriges Weib. (…)
In aller Ausführlichkeit wird beschrieben, wie die Alten bemüht sind, den Gästen alles zum Besten zu richten (sehr lesenswert, besonders die Jagd auf die Gans! Leider muss ich hier kürzen). Das Ende vom Lied: die ganze Ebene wird von Zeus überschwemmt, aber das Häuschen der Alten wird auf den Berg versetzt und zu einem prächtigen Tempel, wo die beiden nun Priester werden. Ihr Wunsch, einst am selben Tag zu sterben, wird ihnen gnädig erfüllt. Den guten Menschen gegenüber sind auch die Götter gütig.
***
Im Lehrstück „Der gute Mensch von Sezuan“, das ebenfalls mit der Suche der Götter nach einem „guten Menschen“ beginnt, legt Brecht dar, wie die „Verhältnisse“ die Güte zum Scheitern bringen. Warum helfen die Götter nicht? „Wir sind nur Betrachtende“, sagen sie, die Kraft des guten Menschen „wird wachsen mit der Bürde“. Das aber funktioniert nur, indem sich das Individuum aufspaltet in eine gute, hilfsbereite und eine harte, brutale Persönlichkeit. Das Ende vom Lied ist in diesem Fall: der Anspruch der Götter, „gut zu sein und doch zu leben“, ist in dieser Welt nicht erfüllbar.
Die Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration, die Brecht 1938 schrieb, beginnt mit den wunderbaren Zeilen:
- Als er siebzig war und war gebrechlich
- Drängte es den Lehrer doch nach Ruh
- Denn die Güte war im Lande wieder einmal schwächlich
- Und die Bosheit nahm an Kräften wieder einmal zu.
- Und er gürtete den Schuh.
Und so zieht sich das Thema der fehlenden oder falsch eingesetzten „Güte“ des Menschen durchs ganze Brechtsche Werk. Das Vertrauen, dass der „gütige Gott“ die Dinge zum Guten der Menschen regeln wird (wie im Psalm 107** besungen), fehlt ihm. Es bleibt nichts anderes übrig, als dass die Menschen selbst für eine „gute Welt“ kämpfen. In „Die Heilige Johanna der Schlachthöfe“, in dem Brecht die Zustände wärend der Weltwirtschaftskrise 1929/30 thematisiert, klagt die Titelheldin sterbend:
„Wie gerufen kam ich den Unterdrückern / O folgenlose Güte, Unmerkliche Gesinnung / Ich habe nichts geändert / Schnell verschwindend aus dieser Welt ohne Frucht / Sage ich euch: / Sorgt doch, dass Ihr die Welt verlassend / Nicht nur gut ward, sondern verlasst / Eine gute Welt.“
Was also tun? Gut sein in einer schlechten Welt oder mit „schmutzigen Händen“* für eine gute Welt kämpfen? Das war Brechts Dilemma, das er sein Leben lang nicht auflösen konnte. 
*Die schmutzigen Hände (fr. Les mains sales), Drama von Jean-Paul Sartre, 1948.
** Psalm 107 (in Luthers Übersetzung, 1545)