112 Stufen, 62: Kränkung (Dieter Bonhoeffer)

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Und doch wird sie immer und immer wieder angetastet, mit Füßen getreten, zu Boden gestampft. Jeder Gefangene, insbesondere aber der politische, muss diese Kränkung, die über die Entziehung der Freiheitsrechte weit hinaus geht, erdulden. Auch heute! Auch in Deutschland! Sicher, das Maß der Entwürdigung ist in demokratisch verfassten Gesellschaften ein anderes als in totalitären Regimen, aber die Zielrichtung dieselbe: es geht immer darum, den Menschen innerlich zu brechen, indem man seine Würde antastet.

Der Text ist von Dietrich Bonhoeffer (1906-1945), verfasst während seiner Inhaftierung in Berlin. Bonhoeffer war ein tiefgläubiger evangelisch-lutherischer Theologe, kämpferisches Mitglied der „Bekennenden Kirche“ und des Widerstands gegen das NS-Regime. Er wurde im April 1943 wegen „Wehrkraftzersetzung“ inhaftiert, ihm wurde Teilnahme an der Verschwörung zur Ermordung Hitlers vorgeworfen, und im April 1945, also kurz vor Kriegsende, wurde er im KZ Flossenburg nach einem Scheinverfahren ermordet. Dass sich die Todeskandidaten nackt zum Galgen begeben mussten, ist Teil der dem Menschen zusätzlich zugefügten „Kränkung“. Es reicht eben nicht, sie zu ermorden, man muss sie außerdem demütigen, solange noch ein Lebenshauch in ihnen ist.

Veröffentlicht wurde der Text in „Widerstand und Ergebung“ – eine Sammlung von Briefen und Aufzeichnungen aus Bonhoeffers letzten beiden Lebensjahren (Quelle). Gespalten zwischen äußerlicher Ruhe und innerer Verzweiflung versucht er, sich die Frage zu beantworten: Wer bin ich?  „Kränkung“ ist nicht der zentrale Begriff, aber ein zentrales Empfinden: Die Würde des Menschen wird durch das, was ihm angetan wird, zutiefst gekränkt. Seine Selbstdarstellung nach außen ist der Versuch, diese Würde als unangetastbar hinzustellen. Das ist seine Rüstung, mit der er dem Feind begegnet. Sein Inneres aber weiß von der tiefen Verletzung, „zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung“.

„Gekreuzigter“ von Rosy Lilienfeld. um 1928. Jüdisches Museum Frankfurt/Main

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,

ich träte aus meiner Zelle

gelassen und heiter und fest,

wie ein Gutsherr aus seinem Schloß.

 

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,

ich spräche mit meinen Bewachern

frei und freundlich und klar,

als hätte ich zu gebieten.

 

Wer bin ich? Sie sagen mir auch,

ich trüge die Tage des Unglücks

gleichmütig lächelnd und stolz,

wie einer, der Siegen gewohnt ist.

 

Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?

Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?

 

Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,

ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,

hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,

dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,

zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,

umgetrieben vom Warten auf große Dinge,

ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,

müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,

matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?

 

Wer bin ich? Der oder jener?

Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?

Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler

Und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?

Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,

das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?

 

Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.

Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!

Die Richter des Standgerichts wurden übrigens von nachkriegsdeutschen Gerichten freigesprochen. 1956 urteilte der BGH, dass das Urteil des SS-Standgerichts dem damaligen Recht entsprochen habe und daher auch weiterhin gültig sei.  Entschädigungsleistungen für die Angehörigen seien daher nicht fällig. Erst durch das „Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege und von Sterilisationsentscheidungen der ehemaligen Erbgesundheitsgerichte“ von 1998 wurde Bonhoeffer nicht mehr als verurteilter Straftäter geführt. 

 

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About gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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31 Responses to 112 Stufen, 62: Kränkung (Dieter Bonhoeffer)

  1. So unsagbar widerlich und sollte uns IMMER eine Mahnung sein auch in einer scheinbaren Demokratie!
    Es gibt bestimmte Vorzeichen, es gibt Muster und psychologische Strategien, die dann in eine furchtbar dunkle Zeit führen können! Die Gefährlichen sind aber meistens die hoheitshörigen gehorsamen Staatshuren!

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    • Avatar von gkazakou gkazakou sagt:

      Da hast du leider recht.

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    • Avatar von Myriade Myriade sagt:

      Gefährlich sind auch jene, die demokratische Staaten – wie in diesem Fall Deutschland – als „scheinbare Demokratien“ bezeichnen …

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      • Avatar von gkazakou gkazakou sagt:

        Es kommt darauf an: ob jemand von „scheinbarer Demokratie“ spricht, um bereits eingetretene Schäden zu benennen und korrigieren, oder ob er es sagt, um die Schäden zu verschlimmern und die Demokratie zu zertrümmern. Ersteres ist notwendig, letzteres kann böse enden.

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      • Avatar von Myriade Myriade sagt:

        Es ist ein Unterschied für die Person, die entweder in zerstörerischer Absicht oder aus Naivität wild um sich schlägt obwohl höchstwahrscheinlich die Probleme, die sie hat mit dem System der Demokratie gar nichts zu tun haben. Für die eventuell schädlichen Auswirkungen solcher Aussagen auf den Staat ist die Absicht der Person aber irrelevant, da geht es um die Handlung als solche.

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      • Avatar von gkazakou gkazakou sagt:

        nun ja, da sind wir anderer Ansicht. Wer für die Erhaltung und Verbesserung der Demokratie sich einsetzt, ist mir immer willkommen, denn sehr leicht mutiert sie zu einem autoritären Herrschaftssystem, wenn man die Regierenden unbehelligt tun lässt, was ihre Interessenverquickungen ihnen gebieten. Du zB hast doch auch nichts gegen Aktionen oder Äußerungen, die sich gegen Auswüchse der Trump-Administration richten – oder?

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      • Avatar von Myriade Myriade sagt:

        Ich habe gar nichts gegen gerechtfertigte und erläuterte Proteste. Ich habe nur etwas gegen naiv-emotionale Sätze, die ohne belastbare Grundlage einfach rausgehaut werden und behaupten, dass ein Staat wie Deutschland keine Demokratie ist

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  2. Avatar von Lyrifant Lyrifant sagt:

    Gut, dass Du daran erinnerst! Ein Like = „Gefällt mir“ funktioniert aber hier für mich nicht …

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  3. Avatar von Peter Klopp Peter Klopp sagt:

    Ein erschütternder Bericht über  Dietrich Bonhoeffer und sein Denken über die Menschenwürde, das in unserer modernen Zeit nicht an Bedeutung verloren hat!

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  4. und wieder mal packt mich das Entsetzen, wenn ich darüber nachdenke, daß man ihn als Straftäter sah. Er war doch genau das Gegenteil!

    Was ist mit den Menschen geschehen? Halten sie sich immer an Paragraphen, auch wenn sie genau wissen, daß diese falsch sind und sofort geändert werden müssten?

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    • Avatar von gkazakou gkazakou sagt:

      Es ist das juristische Denken. „Was einmal Recht war, kann nicht Unrecht werden“ – sagte einer der bekanntesten NS-Richter nach dem Krieg. Den Juristen geht es um die „korrekte Anwendung“ und nicht um den Geist der Gerechtigkeit und des Rechts.

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      • Avatar von Myriade Myriade sagt:

        Auch Juristen wissen, dass Recht und Gerechtigkeit nicht immer dasselbe ist. Wenn aber jede/r Richter/in die gerade geltenden Gesetze auf seine/ihre Art auslegt… So einfach ist das nicht. Wer es mit dem Gewissen nicht vereinbaren kann nach Gesetzen zB einer Diktatur zu richten, muss vom Richteramt zurücktreten oder zum Komplizen werden.

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      • Avatar von gkazakou gkazakou sagt:

        Jederzeit „auf seine Art auslegen“ ist natürlich nicht möglich, das wäre Willkür. Aber es gibt immer auch Auslegungsmöglichkeiten, was sich zB im Gedanken der Revision ausdrückt.

        Auch in Diktaturen gibt es Spielräume. Was wäre denn geschehen, wenn die Richter Bonhoeffer kurz vor dem Ende des Regimes (es war schon April 1945) freigesprochen hätten, zumal die Prozessakten in Berlin durch Luftangriffe zerstört waren? O nein! Das ging natürlich überhaupt nicht! Und die Justiz Nachkriegsdeutschlands bestätigte das Urteil als „rechtmäßig“! Verstehst du denn nicht, dass es der Ungeist der Justiz ist, der sich darin ausdrückt? Und der in allen Gerichten präsent ist, auch wenn die Strafbestimmungen und Haftbedingungen heute andere sind? – Ich meine, wenn man auf Urteile und ihre Begründungen schaut, kann man sehr wohl erkennen, welche dem Geist (Gerechtigkeit, Wohlwollen) und welche dem Ungeist (Paragraphengehorsam, enge Auslegung) der Justiz folgen.

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      • *rechtmäßig* schon

        aber nicht richtig, sondern menschenverachtend – noch im Nachhinein!

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      • Avatar von Myriade Myriade sagt:

        Zwar motivieren mich Aussagen, die mit „verstehst du denn nicht, dass“ beginnen nicht gerade zum Diskutieren….
        Aber ich verstehe deine Argumentationslinie nicht. Es ist doch nicht Ziel einer Justiz unter einem kriminellem Regime wie jenem der Nazis, den Geist der Justiz zu pflegen. Zweck solcher (Schau)prozesse ist es, Widerstand zu eliminieren. Wie könnte man da vermuten, dass es zu einem gerechten Urteil kommen könnte? Schon die Anklage ist in solchen Fällen ungerecht. Menschen, die unter dem NS-Regime Richter*innen waren, haben sich moralisch disqualifiziert. Wer würde von ihnen erwarten, dass sie eventuell vorhandene Spielräume zugunsten der Angeklagten nützen würden ? Also ich verstehe nicht, worauf du eigentlich hinauswillst.

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      • Avatar von gkazakou gkazakou sagt:

        Worauf ich hinaus will, liebe Myriade? Ich bin 1942 geboren, und als ich aufwuchs, wimmelte es in der neu geschaffenen Bundesrepublik von Richtern, die in der NS-Zeit „Recht“ gesprochen haben. Es gab keinen Bruch. „Sie waren führende Staatsanwälte und Richter im Nationalsozialismus. Sie wirkten an Euthanasie-Gesetzen und Rassen-Reinheitsprogrammen mit. Sie fällten Todesurteile für kleinste Delikte: 16 NS-Juristen stehen am 17. Februar 1947 selbst vor Gericht, angeklagt von den Alliierten beim Nürnberger Juristenprozess. Zwölf werden verurteilt, vier von ihnen bekommen lebenslänglich. Doch spätestens 1956 werden alle Verurteilten begnadigt und beziehen stattliche Pensionen.“ „Alle wurden wieder eingestellt, weil sie im Rahmen der Entnazifizierung als entlastet oder als Mitläufer eingestuft wurden. Und als Mitläufer brauchten sie nur ein halbes Jahr auf zehn Prozent ihrer Bezüge zu verzichten. Jeder hat wieder schnell sein Amt gefunden.“ (https://www.deutschlandfunk.de/ 15.2.2007) Kannst du ja mal nachlesen oder schauen, wie das in Österreich gehandhabt wurde.

        Was sich geändert hat, ist der Rechtsrahmen, nicht die Art, Recht zu sprechen. Und das spürt man leider immer wieder, auch heute.

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      • Avatar von Myriade Myriade sagt:

        Da wirst du wahrscheinlich deutsche Gerichtsurteile verfolgen, sonst wüsste ich nicht, wie du die Art Recht zu sprechen und ihre Veränderungen oder nicht Veränderungen beurteilen kannst.
        Dass die Entnazifizierung wenig glorreich war, weiß man ja, aber es sind achtzig Jahre vergangen. Besser fände ich es, sich mit den Jungnazis zu beschäftigen, die auf mitteleuropäischen Straßen marschieren und ihre scheußlichen Ideologien an die Macht bringen wollen.

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      • und wenn die korrekte Anwendung sich inzwischen als falsch herausstellte? Gibt es keinen § , der dann Änderung erlaubt?

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      • Avatar von gkazakou gkazakou sagt:

        Das hättest du wohl gern, liebe Bruni: eine Automatik der Korrektur falscher Urteile….

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      • Könnte man heute doch mit KI machen!🤔😂

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  5. Ich wollte den YouTube Link mit dem Freispruch von Michael Ballweg hier teilen, geht nicht!

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    • Avatar von gkazakou gkazakou sagt:

      Hat ja geklappt. Ich hoffe, dem Füllmich wird auch endlich die Freiheit wiedergegeben und eine Entschädigung gezahlt.

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      • Ja genau, daß ist alles unfassbar!
        Aber die DDR nannte sich auch Demokratie, gell!🤔
        Wir sind auf einem gute Weg mit der links Orientierung!😉

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      • Avatar von gkazakou gkazakou sagt:

        die Begriffe links-rechts finde ich unbrauchbar/irreführend. Und ja: in der DDR kursierte der Spruch: „Gib mir den Mann, die Tat finden wir dann schon“. Das passt auf Ballweg und Füllmich, die man „haben“ wollte, und deshalb konstruierte man einen Fall und warf sie ins Gefängnis, Einzelhaft, Fluchtgefahr etc pp. Dass bei Ballweg schließlich nur eine Hundematte von 9.45 E unversteuert und noch was (zusammen unter 20 E)war, was ihm eine Verwarnung einbrachte, lässt die 279 Tage Einzelhaft im Hochsicherheitsknast, die 44 Prozesstage und 80 Zeugenbefragungen besonders absurd erscheinen. Und: „Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig“, die Staatsanwaltschaft könnte Berufung einlegen. Oder auch Ballweg selbst, der einen Freispruch fordert. Aber wen interessiert das – außer dich und mich und noch ein paar Hanseln, die sich Sorgen machen um den Rechtsstaat?

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      • Das ist genau der Punkt und absolut irre finde ich, daß man sich dann im Gegenzug um illegale Schwerstverbrecher sorgt, wenn sie in ihre Heimat zurück geführt werden sollen.
        Manchmal habe ich den Eindruck wir werden zum Irrenhaus EU, so war das alles nicht gedacht!
        Aber gut, ganz demokratisch hat jeder das Recht zu denken was er will nur muss er aufpassen wo er den Mund aufgemacht, gelle!

        In diesem Sinne allen eine schöne Woche!

        Grüßle Babsi

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  6. schrecklich. Wieso kann es so viel Unrecht in der Rechsprechung geben?

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