112 Stufen, 49 Leidenschaft (Marie von Ebner-Eschenbach)

Reiner hat ein „Mitmachding“ initiiert. Es geht darum, jeden Tag einen Text zu einem Wort zu posten, das sich auf der Holsteiner Treppe in Wuppertal, verteilt auf 9 Absätze befindet. Es reizt mich, da mitzumachen, allerdings eher nicht mit eigenen Textproduktionen, sondern mit literarischen Assoziationen und Gedichten anderer. Ich bin gespannt, welche Texte, Gedichte, Geschichten jedes dieser Wörter in meiner Erinnerung aufleuchten lässt. All diese Erinnerungen an Gelesenes und im Gedächtnis Aufgehobenes sollen mir einen nachklingenden Teppich weben, den ich über die Stufen lege, um noch einmal hinaufzusteigen.

Sehr zwiespältig stehen die Dichter den Leidenschaften gegenüber. Sie fürchten sie und sie rufen sie an, als seien es Geister aus der Unterwelt. So dichtete Stefan Zweig in seiner Novelle „Der Amokläufer“ (1922), die 1931 als Volksausgabe im Inselverlag eine Auflage von 150 000 erreichte (und wenig später verbrannt wurde):

Isolde (Hedonie), Luise (Traumwesen), Danai (kniend) und Wilhelm (gestürzt) – Szene aus dem „Kleinen Welttheater“, Legebild

Stefan Zweig

Tu auf dich, Unterwelt der Leidenschaften:
Gestalten ihr, geträumt und doch empfunden,
lasst eure Lippen heiß an meinen haften,
trinkt Blut von Blut und Atem mir vom Munde!

Brecht vor aus euren Zwielichtfinsternissen
und schämt euch nicht der Qual, die euch umschattet!
Wer Liebe liebt, will nicht ihr Leiden missen,
was euch verstört, ists, was mich zu euch gattet.

Nur Leidenschaft, die ihren Abgrund findet,
lässt deine letzte Wesenheit entbrennen,
nur der sich ganz verliert, ist sich gegeben.

So flamm dich auf! Erst wenn du dich entzündet,
wirst du die Welt in deiner Tiefe kennen:
Erst wo Geheimnis wirkt, beginnt das Leben.

Tatsächlich können große Leidenschaften … Krankheiten ohne Hoffnung genannt werden. Was sie heilen könnte, macht sie erst recht gefährlich. So urteilte Goethe (Ottilies Tagebuch in Wahlverwandtschaften, 1809).

Wie Stefan Zweig zur geschilderten Leidenschaft seines Helden stand, kann ich nicht wissen. Genauso wenig weiß ich, ob Goethe mit seiner Heldin Ottilie übereinstimmt, vermute es aber, denn die „Wahlverwandtschaften“ schrieb er als abgeklärter Mann, der den Tollheiten des Werther höchst kritisch gegenüber stand. Ganz anders steht es mit Else Lasker-Schüler (1869 – 1945), die ihre eigenen Leidenschaften unermütlich in großartig-unterweltlichen Bildern vor unserer erstaunten Seele entfaltet.

Else Lasker-Schüler

Sinnenrausch

Dein sünd’ger Mund ist meine Totengruft,
betäubend ist sein süßer Atemduft,
Denn meine Tugenden entschliefen.
Ich trinke sinnberauscht aus seiner Quelle
und sinke willenlos in ihre Tiefen,
verklärten Blickes in die Hölle.

Mein heißer Leib erglüht in seinem Hauch,
er zittert, wie ein junger Rosenstrauch,
geküsst vom warmen Maienregen.
– Ich folge dir ins wilde Land der Sünde
und pflücke Feuerlilien auf den Wegen,
– wenn ich die Heimat auch nicht wiederfinde…

Nun habe ich aber weder Stefan Zweig noch Goethe noch auch Else Lasker-Schüler gewählt, um die Stufe „Leidenschaft“ zu vertreten. Stattdessen wählte ich eine Frau, die, unendlich weit vom unterweltlichen Irrsinn der Leidenschaften entfernt, sich im Leben und in der Dichtung um schönes Gleichmaß bemühte. Soviel ich weiß, fröhnte sie nur einer Leidenschaft: dem Sammeln von Uhren.

Marie von Ebner-Eschenbach (1830-1916), wie Annette von Droste-Hülshoff (1797-1848) aus altem Adelsgeschlecht, beschritt ihren eigenen Weg in die Emanzipation und schaffte es schließlich, als „Dichter“ anerkannt zu werden. Schon mit 18 Jahren heiratete sie ihren 15 Jahre älteren Vetter – da blieb für Elses „Sinnenrausch“ nicht viel Raum. Aber sie blieb auch nicht, wie Annette, in der familiären Abhängigkeit stecken. Dafür sorgte sie, indem sie, gegen den Zeitgeist, eine Ausbildung zur Uhrmacherin absolvierte und in ihrer ersten großen Erzählung  „Lotti, die Uhrmacherin“ (1880) ein Handwerk und technische Wunderwerke zu Helden erhob.

Zum Glück ist diese Novelle im Projekt Gutenberg erschienen, und so kann ich euch Fräulein Lotti im Originalton vorstellen, genauso wie sie Marie von Ebner-Eschenbach damals, im Jahr 1880, vor Augen stand. Schon in diesem ersten Abschnitt wird klar, welcher Art Lottis Leidenschaft (und die der Autorin) ist:

Fräulein Lotti war soeben erwacht. Die Repetieruhr, die an einem zart geschweiften Schnörkel am rechten Kopfende des altertümlichen, reich geschnitzten Bettes hing, schlug mit zartem Klange sechsmal an. Gleich darauf begann die deutsche Stockuhr, eine solide Arbeit Meister Anton Schreibelmeyers, von der Kommode am Pfeiler aus, die Morgenstunde zu verkünden. – Auf! auf! befahl ihre gebieterische Stimme, an die Arbeit! der Tag beginnt! – Ihre Glocken hatten kaum ausgezittert, als auch schon die französische Wanduhr, in aller Bescheidenheit, eilig und leise zu melden begann: Sechs! sechs! gehorsamst zeig ich’s an.

Eine kleine Pause – und am linken Kopfende des Bettes erhob das Seitenstück der Repetier-, eine Spieluhr, ihre Silberstimme und gab ein Schäferliedchen zum besten, so lieblich, als hätten kleine Engel es gesungen.

Mit unendlichem Wohlgefallen lauschte das Fräulein dem Konzerte, das ihre Uhren abhielten, und hätte in den Schlußgesang beinahe mit eingestimmt, so fröhlich war ihr zumute. An dem Lichte, das durch die herabgelassenen Vorhänge in das Zimmer drang, erkannte sie, daß es heute einen schönen Tag gebe – war das nicht genug, um den reichen Quell von Heiterkeit in ihrer Seele zum Überströmen zu bringen?

Sie stand auf und kleidete sich an; sehr sorgfältig zwar, aber ohne dabei mehr, als durchaus nötig war, in den Spiegel zu sehen, denn – sie war sich kein angenehmer Anblick. Die Zeit, in welcher sie ihren Mangel an Schönheit gar schmerzlich und fast wie eine Schmach empfunden, war freilich vorbei. Jetzt, mit fünfunddreißig Jahren als ehrenfeste alte Jungfer, hatte sie längst aufgehört, ihr Äußeres gehässig anzufeinden, aber so ganz erloschen war das letzte Fünkchen Eitelkeit in ihrem Frauenherzen doch nicht, wenn es sich auch nur in dem Gedanken aussprach: Es ist ein Glück, daß ich anderen anders vorkomme als mir selbst, sonst könnte mich niemand leiden.

Nach beendeter Toilette begab sie sich aus dem Schlaf- in das Wohnzimmer. Es war ein trauliches Gemach, dessen Fenster auf einen kleinen Platz sah – einen sehr kleinen, denn er wurde von nur vier Häusern gebildet; doch war er luftig und hell und gewährte den Anblick eines beträchtlichen Stückes Himmel, was gewiß kein geringer Vorzug war. Es will etwas heißen, im Herzen der Zivilisation zu wohnen, im Mittelpunkt der Hauptstadt, tausend Schritte vom Dome, den zu sehen viele Leute tausend Meilen weit hergezogen kommen, und dabei von seinem Fenster aus Wetterbeobachtungen fast wie Knauer und das Studium des Sternenlaufes fast wie ein Chaldäer betreiben zu können, Wolken und Vögel ziehen und der Sonne und dem Mond ins Gesicht zu sehen….

Ja, ja, es liest sich gut, man möchte weiterlesen und nicht aufhören und erfahren, wie diese durchaus unschöne Jungfer ihr Herz gelehrt hat, das Leben auf eine solid-leidenschaftliche Weise zu lieben und ihm eine stabile Basis zu geben, weit stabiler, als es der vorübergehende Sinnesrausch vermag.

Bleistiftzeichnung mit Uhr und Eulen

 

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About gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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3 Responses to 112 Stufen, 49 Leidenschaft (Marie von Ebner-Eschenbach)

  1. Deine Eulenzeichnung….ist einfach wunderschön, Gerda.

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  2. Was Du alles entdeckst, bzw. weißt, liebe Gerda. Granios!
    Die Leidenschaft für Uhren war mir sehr neu bei Frau von Eschenbach, aber von ihr weiß ich sowieso kaum etwas.

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