112 Stufen: Die ersten beiden Treppenabschnitte im Rückblick

Treppe in Anafiotika, Akropolis, Athen (Bleistift)

Reiner hat ein „Mitmachding“ initiiert. Es geht darum, jeden Tag einen Text zu einem Wort zu posten, das sich auf der Holsteiner Treppe in Wuppertal, verteilt auf 9 Absätze befindet. Es reizt mich, da mitzumachen, allerdings eher nicht mit eigenen Textproduktionen, sondern mit literarischen Assoziationen und Gedichten anderer. Ich bin gespannt, welche Texte, Gedichte, Geschichten jedes dieser Wörter in meiner Erinnerung aufleuchten lässt. All diese Erinnerungen an Gelesenes und im Gedächtnis Aufgehobenes sollen mir einen nachklingenden Teppich weben, den ich über die Stufen lege, um noch einmal hinaufzusteigen.

Nun also habe ich den zweiten Treppenabschnitt und die dreißigste Stufe erklommen -Zeit, Atem zu holen, zurückzuschauen und mich zu besinnen.

Der zweite Treppenabschnitt im Rückblick

30 Aggressiv (F.T.Marinetti) – 29 Auslöser/Anlass (Helmut Heißenbüttel) – 28 friedlich (Bertold Brecht) – 27 beruhigen (Natur) – 26 Freude (Friedrich Schiller) – 25 Verbot (Anatole France) – 24 wappnen (Martin Luther) – 23 zur-Wehr-Setzen (Georg Herwegh) – 22 Zorn (Roman Herzog/Georg Trakl) – 21 Begeisterung (Hegel) – 20 Bruder (Karl König) – 19 Nähe (Christian Morgenstern) – 18 Ehrlichkeit (Ringelnatz) – 17 Lachen (Günter Grass) – 16 Sprechen (Schiller) –

Der erste Treppenabschnitt im Rückblick

15 Vergeben (Ricarda Huch, Leo Tolstoi, Matthäus) – 14 Gewissen (Franz Joseph Degenhardt) – 13 beschützen (Hermann Hesse) – 12 Jauchzen (Johann Sebastian Bach) – 11 Ehre (Johann Wolfgang von Goethe) – 10 Familie (David Cooper) – 9 Erschrecken (Lukas-Evangelium) – 8 Angst (Mascha Kaléko) – 7 Unschuld (Friedrich Nietzsche) – 6 Heimat (Theodor Fontane) – 5 Liebkosen (Leo Tolstoi) – 4 Wärmen (Wolfgang Borchert) – 3 Mutter (Kurt Tucholsky) – 2 Streicheln (John Steinbeck) – 1 Glück (Johann Wolfgang von Goethe).

Es ist eine merkwürdige Ansammlung von Zitaten und Ereignissen, die Quellen reichen von biblischen Zeiten bis in die Gegenwart. Ganz zufällig scheint die Auswahl zu sein, und dennoch: jedesmal, wenn ich eine neue Stufe erklomm, war mir, als gäbe es eine geheime Beziehung zur vorangegangenen und zu meinem eigenen Leben in Deutschland. Wäre es nicht so, würde ich dieses Experiment wohl schon aufgegeben haben. So aber scheint es mir, als hälfe es mir, über meinen Bildungs- und Lebens-„Background“ – also den Resonnanzraum in der Tiefe, in dem immer noch auch die Gegenwart echot – größere Klarheit zu gewinnen.

Ob es tatsächlich so ist, werde ich am Ende dieser Treppenbesteigung wissen. Jetzt ist nur eines schon überdeutlich: dass meine „geistige Welt“, und vermutlich auch meine moralische zusammenstückelt ist aus lauter Versatzstücken der sogenannten abendländischen Kultur.  All diese Stücke haben sich in mir herumgetrieben und dann abgelagert. Die meisten stammen aus der Zeit, als ich noch zur Schule ging, manche kamen in den Studentenjahren und in den Jahren danach dazu. Von christlichen über bürgerlich-liberale, radikal-aufklärerische, faschistische und kommunistische Motive ist alles dabei.

In diesen Bruchstücken, so will mir scheinen, bricht sich wie in dem Haufen Glasscherben, den ich gestern hervorkramte, die Geschichte Deutschlands, soweit sie etwas mit mir und meinem Leben zu tun hat. Ich betrachte neugierig jede einzelne Scherbe und versuche, sie einzupassen in das ursprüngliche Ganze. Manche Scherben passen nicht, sie scheinen zu einem anderen Ganzen zu gehören – sind nur zufällig auf dem Haufen gelandet, wie die beiden Tolstoi-Zitate und das Gedicht von Mascha Kaléko, die zu meinem Jetzt gehören. Die anderen aber scheinen einen gemeinsamen Ursprung in meinem „Bildungsgang“ zu haben, und den werde ich versuchen zusammenzusetzen.

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About gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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