Reiner hat ein „Mitmachding“ initiiert. Es geht darum, jeden Tag einen Text zu einem Wort zu posten, das sich auf der Holsteiner Treppe in Wuppertal, verteilt auf 9 Absätze befindet. Es reizt mich, da mitzumachen, allerdings eher nicht mit eigenen Textproduktionen, sondern mit literarischen Assoziationen und Gedichten anderer. Ich bin gespannt, welche Texte, Gedichte, Geschichten jedes dieser Wörter in meiner Erinnerung aufleuchten lässt. All diese Erinnerungen an Gelesenes und im Gedächtnis Aufgehobenes sollen mir einen nachklingenden Teppich weben, den ich über die Stufen lege, um noch einmal hinaufzusteigen.
Die von Beethoven vertonte Schillersche Ode „An die Freude“ – wer kennt sie nicht? Ich weiß nicht, wann ich sie zuerst hörte. Und die ich, obgleich sie inzwischen zum EU-Anthem heruntergekommen ist und bei den unpassendsten Anlässen aufgeführt wird, nicht aufhöre zu lieben.
Die Musik entbehrt selbst in dieser kastrierten Form nicht ihrer befeuernden Wirkung, der Text ist freilich soundso, und selbst Schiller fand ihn „schlecht“. Die erste Strophe hieß in der ursprünglichen Fassung (1785):
Freude, schöner Götterfunken,
Tochter aus Elisium,
Wir betreten feuertrunken
Himmlische, dein Heiligthum.
Deine Zauber binden wieder,
was der Mode Schwerd getheilt;
Bettler werden Fürstenbrüder,
wo dein sanfter Flügel weilt.
Die Bettler, die durch Freude Brüder von Fürsten werden, hat Schiller dann wohl doch zu peinlich gefunden und durch die heute gültige, 1808 posthum veröffentlichte Fassung ersetzt:
Freude, schöner Götterfunken,
Tochter aus Elisium,
Wir betreten feuertrunken,
Himmlische, dein Heiligthum.
Deine Zauber binden wieder,
Was die Mode streng getheilt,
Alle Menschen werden Brüder,
Wo dein sanfter Flügel weilt.
Im Grunde aber mochte Schiller das inzwischen sehr populäre Gedicht nicht gelten lassen. So schrieb er im Oktober 1800 an Theodor Körner:
„Die Freude hingegen ist nach meinem jetzigen Gefühl durchaus fehlerhaft und ob sie sich gleich durch ein gewißes Feuer der Empfindung empfiehlt, so ist sie doch ein schlechtes Gedicht und bezeichnet eine Stufe der Bildung, die ich durchaus hinter mir lassen mußte um etwas ordentliches hervorzubringen. Weil sie aber einem fehlerhaften Geschmack der Zeit entgegenkam, so hat sie die Ehre erhalten, gewissermaaßen ein Volksgedicht zu werden. Deine Neigung zu diesem Gedicht mag sich auf die Epoche seiner Entstehung gründen; aber diese giebt ihm auch den einzigen Werth, den es hat, und auch nur für uns und nicht für die Welt noch für die Dichtkunst.“ (zitiert nach Wikipedia)
Dieses Urteil des Verfassers bremste freilich die Komponisten nicht, sich des Stoffs zu bemächtigen. Schubert vertonte es 1815, Beethoven erst 1824, als die durch die Französische Revolution und Napoleons Code Civil erzeugte euphorische Stimmung längst verflogen und tiefste Reaktion in Deutschland herrschte. Neben vielen weniger bedeutenden zeitgenössischen Komponisten griff auch Tschaikovsky den Text 1865 auf.
***
Beethoven verwendete für die Neunte nur Teile des Gedichts der letzten Fassung, die er zudem anders arrangierte. Und in dieser Form ist das Lied „An die Freude“ Teil unserer europäischen Kultur geworden. Es fehlen darin die „Tyrannenketten“ und der „Untergang der Lügenbrut“, gestrichen sind auch die Hinweise auf Leiden und Tod.
Die Texte im Vergleich (Quelle: Wikipedia)
Schiller (1785)
Freude, schöner Götterfunken,
Tochter aus Elisium,
Wir betreten feuertrunken
Himmlische, dein Heiligthum.
Deine Zauber binden wieder,
was der Mode Schwerd getheilt;
Bettler werden Fürstenbrüder,
wo dein sanfter Flügel weilt.
C h o r.
Seid umschlungen Millionen!
Diesen Kuß der ganzen Welt!
Brüder – überm Sternenzelt
muß ein lieber Vater wohnen.
Wem der große Wurf gelungen,
eines Freundes Freund zu seyn;
wer ein holdes Weib errungen,
mische seinen Jubel ein!
Ja – wer auch nur e i n e Seele
s e i n nennt auf dem Erdenrund!
Und wer’s nie gekonnt, der stehle
weinend sich aus diesem Bund!
C h o r.
Was den großen Ring bewohnet
huldige der Simpathie!
Zu den Sternen leitet sie,
Wo der U n b e k a n n t e tronet.
Freude trinken alle Wesen
an den Brüsten der Natur,
Alle Guten, alle Bösen
folgen ihrer Rosenspur.
Küße gab sie u n s und R e b e n ,
einen Freund, geprüft im Tod.
Wollust ward dem Wurm gegeben,
und der Cherub steht vor Gott.
C h o r.
Ihr stürzt nieder, Millionen?
Ahndest du den Schöpfer, Welt?
Such’ ihn überm Sternenzelt,
über Sternen muß er wohnen.
Freude heißt die starke Feder
in der ewigen Natur.
Freude, Freude treibt die Räder
in der großen Weltenuhr.
Blumen lockt sie aus den Keimen,
Sonnen aus dem Firmament,
Sphären rollt sie in den Räumen,
die des Sehers Rohr nicht kennt!
C h o r.
Froh, wie seine Sonnen fliegen,
durch des Himmels prächtgen Plan,
Laufet Brüder eure Bahn,
freudig wie ein Held zum siegen.
Aus der Wahrheit Feuerspiegel
lächelt s i e den Forscher an.
Zu der Tugend steilem Hügel
leitet sie des Dulders Bahn.
Auf des Glaubens Sonnenberge
sieht man ihre Fahnen wehn,
Durch den Riß gesprengter Särge
s i e im Chor der Engel stehn.
C h o r.
Duldet mutig Millionen!
Duldet für die beßre Welt!
Droben überm Sternenzelt
wird ein großer Gott belohnen.
Göttern kann man nicht vergelten,
schön ists ihnen gleich zu seyn.
Gram und Armut soll sich melden
mit den Frohen sich erfreun.
Groll und Rache sei vergessen,
unserm Todfeind sei verziehn.
Keine Thräne soll ihn pressen,
keine Reue nage ihn.
C h o r.
Unser Schuldbuch sei vernichtet!
ausgesöhnt die ganze Welt!
Brüder – überm Sternenzelt
richtet Gott wie wir gerichtet.
F r e u d e sprudelt in Pokalen,
in der Traube goldnem Blut
trinken Sanftmut Kannibalen,
Die Verzweiflung Heldenmut – –
Brüder fliegt von euren Sitzen,
wenn der volle Römer kraißt,
Laßt den Schaum zum Himmel sprützen:
Dieses Glas dem guten Geist.
C h o r.
Den der Sterne Wirbel loben,
den des Seraphs Hymne preist,
Dieses Glas dem guten Geist,
überm Sternenzelt dort oben!
Festen Mut in schwerem Leiden,
Hülfe, wo die Unschuld weint,
Ewigkeit geschwornen Eiden,
Wahrheit gegen Freund und Feind,
Männerstolz vor Königstronen, –
Brüder, gält’ es Gut und Blut –
Dem Verdienste seine Kronen,
Untergang der Lügenbrut!
C h o r.
Schließt den heilgen Zirkel dichter,
schwört bei diesem goldnen Wein:
Dem Gelübde treu zu sein,
schwört es bei dem Sternenrichter!
Rettung von Tirannenketten,
Großmut auch dem Bösewicht,
Hoffnung auf den Sterbebetten,
Gnade auf dem Hochgericht!
Auch die Toden sollen leben!
Brüder trinkt und stimmet ein,
Allen Sündern soll vergeben,
und die Hölle nicht mehr seyn.
C h o r.
Eine heitre Abschiedsstunde!
süßen Schlaf im Leichentuch!
Brüder – einen sanften Spruch
Aus des Todtenrichters Munde!
Beethoven, 9. Sinfonie
O Freunde, nicht diese Töne!
sondern laßt uns angenehmere anstimmen,
und freudenvollere.
Freude, schöner Götterfunken,
Tochter aus Elysium,
wir betreten feuertrunken,
Himmlische, dein Heiligtum!
||: Deine Zauber binden wieder,
was die Mode streng geteilt;
alle Menschen werden Brüder,
wo dein sanfter Flügel weilt. :||
Wem der große Wurf gelungen,
eines Freundes Freund zu sein,
wer ein holdes Weib errungen,
mische seinen Jubel ein!
||: Ja, wer auch nur eine Seele
sein nennt auf dem Erdenrund!
Und wer’s nie gekonnt, der stehle
weinend sich aus diesem Bund. :||
Freude trinken alle Wesen
an den Brüsten der Natur;
alle Guten, alle Bösen
folgen ihrer Rosenspur.
||: Küsse gab sie uns und Reben,
einen Freund, geprüft im Tod;
Wollust ward dem Wurm gegeben,
Und der Cherub steht vor Gott! :||
Froh, wie seine Sonnen fliegen
Durch des Himmels prächt’gen Plan,
||: laufet, Brüder, eure Bahn,
freudig, wie ein Held zum Siegen. :||
Freude, schöner Götterfunken,
Tochter aus Elysium,
wir betreten feuertrunken,
Himmlische, dein Heiligtum!
||: Deine Zauber binden wieder,
was die Mode streng geteilt;
alle Menschen werden Brüder,
wo dein sanfter Flügel weilt. :||
||: Seid umschlungen Millionen.
Diesen Kuß der ganzen Welt! :||
||: Brüder! überm Sternenzelt
muß ein lieber Vater wohnen :||
Ihr stürzt nieder Millionen?
Ahnest du den Schöpfer, Welt?
Such’ ihn über’m Sternenzelt!
||: Über Sternen muß er wohnen. :||
||: Freude schöner Götterfunken,
Tochter aus Elysium,
wir betreten feuertrunken
Himmlische, dein Heiligtum! :||
Seid umschlungen Millionen!
||: Diesen Kuß der ganzen Welt! :||
||: Freude, Tochter aus Elysium! :||
||: Deine Zauber binden wieder,
was die Mode streng geteilt. :||
||: Alle Menschen werden Brüder,
wo dein sanfter Flügel weilt. :||
Seid umschlungen, Millionen!
Diesen Kuß der ganzen Welt!
Brüder! über’m Sternenzelt
muß ein lieber Vater wohnen.
Seid umschlungen!
Diesen Kuss der ganzen Welt!
Freude schöner Götterfunken!
Tochter aus Elysium!
Freude, schöner Götterfunken! Götterfunken!

Eine schöne Beschreibung zur „Freude…“ Wenn ich mich recht erinnere sangen wir es 1964 anlässlich eines Schüleraustausches mit unserer französischen Partenstadt.
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Interessant, ich musste lachen bei den Zeilen „Duldet mutig, Millionen, duldet für die bessre Welt.“ Insgesamt eine großartige Vision von Gnade, Erlösung, Hoffnung für Alle…(ich kannte es vorher nicht, nur das gesungene) Aus der Zeit gefallen?
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In Europa ist, glaube ich, die Zeit vorbei, wo man die Massen mit dem Aufruf „Duldet für eine bessere Welt“ in Bewegung setzen konnte. In anderen Weltgegenden ist es wohl anders, aber ist das gut? Leider werden solche Aufrufe ja regelmäßig misbraucht, so dass die Menschen zwar leiden, aber die bessere Welt dennoch ausbleibt.
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Ich denke, das ist christlichen Ursprungs, und dulden heißt auch leiden…wie dabei die bessre Welt entstehen soll, ist mit ein Rätsel.
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Nun ja, die Idee dahinter ist, dass man für eine bessere Welt die Waffen ergreifen und kämpfen soll – etwa für soziale Gerechtigkeit, Kommunismus -, und das tun dann viele, sie dulden und leiden, nur um sich in einer noch schlechteren Welt wiederzufinden. In christlicher Sicht ist das Dulden (die andere Wange hinhalten) als solches der Beginn einer besseren Welt. (Schluss mit „Auge um Auge“). Schiller hatte wohl eher Revolten und Attentate gegen Alleinherrscher im Sinne – so auch in der „Bürgschaft“: „was wolltest du mit dem Dolche, sprich!“ – „Die Stadt vom Tyrannen befreien.“ – „Das sollst du am Kreuze bereuen“.
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