112 Stufen, 23: sich-zur-Wehr-setzen oder doch lieber schlafen? (Georg Herwegh)

Reiner hat ein „Mitmachding“ initiiert. Es geht darum, jeden Tag einen Text zu einem Wort zu posten, das sich auf der Holsteiner Treppe in Wuppertal, verteilt auf 9 Absätze befindet. Es reizt mich, da mitzumachen, allerdings eher nicht mit eigenen Textproduktionen, sondern mit literarischen Assoziationen und Gedichten anderer. Ich bin gespannt, welche Texte, Gedichte, Geschichten jedes dieser Wörter in meiner Erinnerung aufleuchten lässt. All diese Erinnerungen an Gelesenes und im Gedächtnis Aufgehobenes sollen mir einen nachklingenden Teppich weben, den ich über die Stufen lege, um noch einmal hinaufzusteigen.

„Der Freiheit eine Gasse!“ Georg Herwegh, 1841

Der Schwerpunkt in Germanistik, den ich für die Magisterprüfung im Jahre 1970 wählte, war der „Vormärz“, so benannt nach der Märzrevolution von 1848. Einer der bekanntesten dieser Poeten und Vorkämpfer gegen den Feudalismus in Deutschland war Georg Herwegh (1817-1875), Sohn Badener Gastwirte, Zögling im Kloster Heilbronn und Stipendiat des Tübinger Stifts. Da flog er aber bereits 1836 raus, was mir im Gedächtnis blieb, weil ich selbst mein Studium 1961 im Tübinger Leibniz-Kolleg begann, es aber  mitsamt fünf anderen unangepassten Kollegiaten im selben Jahr wieder verlassen musste.

Mit 22 floh Herwegh erstmals Richtung Schweiz, um einer Zwangsrekrutierung zu entgehen. Drei Jahre später erschien der erste Band seiner „Gedichte eines Lebendigen“ (1841), dem auch das nachfolgende Gedicht entnommen ist. Es war ein durchschlagender Erfolg und öffnete ihm die Türen zu den Größen des vorrevolutionären Deutschen, darunter Heinrich Heine und Karl Marx.

Das „Wiegenlied“ aus der Sammlung „Gedichte eines Lebendigen“ nimmt als Refrain eine Zeile von Goethes „Nachtgesang“ (s.u.) auf.

Georg Herwegh

Wiegenlied (1841)

Deutschland – auf weichem Pfühle
Mach’ dir den Kopf nicht schwer
Im irdischen Gewühle!
Schlafe, was willst du mehr?

Laß’ jede Freiheit dir rauben,
Setze dich nicht zur Wehr,
Du behältst ja den christlichen Glauben;
Schlafe, was willst du mehr?

Und ob man dir alles verböte,
Doch gräme dich nicht zu sehr,
Du hast ja Schiller und Göthe:
Schlafe, was willst du mehr?

Dein König beschützt die Kameele
Und macht sie pensionär,
Dreihundert Thaler die Seele:
Schlafe, was willst du mehr?

Es fechten dreihundert Blätter
Im Schatten, ein Sparterheer;
Und täglich erfährst du das Wetter:
Schlafe, was willst du mehr?

Kein Kind läuft ohne Höschen
Am Rhein, dem freien, umher:
Mein Deutschland, mein Dornröschen,
Schlafe, was willst du mehr?*

***

Goethes „Nachtgesang“ (1804), das Herwegh ironisch umdichtete, lautet:

O gib vom weichen Pfühle
Träumend, ein halb Gehör
Bei meinem Saitenspiele
Schlafe! was willst du mehr?

Bei meinem Saitenspiele
Segnet der Sterne Heer
Die ewigen Gefühle;
Schlafe! was willst du mehr?

Die ewigen Gefühle
Heben mich, hoch und hehr
Aus irdischem Gewühle;
Schlafe! was willst du mehr?

Vom irdischen Gewühle
Trennst du mich nur zu sehr,
Bannst mich in diese Kühle;
Schlafe! was willst du mehr?

Bannst mich in diese Kühle,
Gibst nur im Traum Gehör.
Ach, auf dem weichen Pfühle
Schlafe! was willst du mehr?

***

Der deutschjüdische Literaturkritiker Alfred Kerr nahm das Motiv dann in seinem Hoffmann von Fallersleben nachgedichteten bekannten Kinderlied „Wer hat die schönsten Schäfchen“ erneut auf („Diktatur des Hausknechts“, 1931)

Alfred Kerr (1931) „Wer hat die schönsten Schäfchen? und klassische Musik? Wer schläft das tiefste Schläfchen? Eine gewisse, eine gewisse, eine gewisse Republik“. Daher stammt dann auch der zeitgenössische Ausdruck „Schlafschafe“.

***

Nach der Februarrevolution 1848 bildete Herwegh in Paris die „Deutsche Democratische Gesellschaft“, die sich sogleich in drei Richtungen aufspaltete: eine nationalistische um Venedy, eine kommunistische um Karl Marx und eine freiheitlich-republikanische, die er selbst vertrat. Diese Aufspaltung ist bis heute nicht überwunden, denn immer noch heißt es,man müsse sich entscheiden, entweder freiheitlich oder sozial oder national gesinnt zu sein. Herwegh ging es vor allem um Freiheit….

Es gäbe noch etliches zu erzählen über diesen weitgehend vergessenen Mann, der seinen in der Schweiz gegründeten „Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein“ in den ADAV von Ferdinand Lasalle (Gründungsvater der deutschen Sozialdemokratie) überführte, für den er auch das „Bundeslied“ dichtete (von dem er sich später distanzierte, weil er ihm zu reformerisch-angepasst war).

Georg Herwegh, Bundeslied des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (1864)

Bet und arbeit ruft die Welt
bete kurz! denn Zeit ist Geld
An die Türe pocht die Not
bete kurz! denn Zeit ist Brot

Und du ackerst und du säst
und du nietest und du nähst
und du hämmerst und du spinnst –
sag mir doch, was du gewinnst

Wirkst am Webstuhl Tag und Nacht
schürfst im Erz- und Kohlenschacht
füllst des Überflusses Horn
füllst es hoch mit Wein und Korn

Doch wo ist dein Mahl bereit?
Doch wo ist dein Feierkleid?
Doch wo ist dein warmer Herd?
Doch wo ist dein scharfes Schwert?

Alles ist dein Werk! o sprich
alles, aber nichts für dich
Und von allem nur allein
schmiedest du die Kette dein?

Kette, die den Leib umstrickt
die dem Geist die Flügel knickt
die am Fuß des Kindes schon
klirrt – o Volk, das ist dein Lohn

Menschenbienen, die Natur
gab sie euch den Honig nur?
Seht die Drohnen um euch her!
Habt ihr keinen Stachel mehr?

Mann der Arbeit, aufgewacht
Und erkenne deine Macht
Alle Räder stehen still
wenn dein starker Arm es will

Deiner Dränger Schar erblaßt
wenn du, müde deiner Last
in die Ecke lehnst den Pflug
wenn du rufst: Es ist genug

Brecht das Doppeljoch entzwei
Brecht die Not der Sklaverei
Brecht die Sklaverei der Not
Brot ist Freiheit, Freiheit Brot

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About gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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4 Responses to 112 Stufen, 23: sich-zur-Wehr-setzen oder doch lieber schlafen? (Georg Herwegh)

  1. Avatar von Klausbernd Klausbernd sagt:

    Liebe Gerda
    Ich habe meine mündliche Prüfung in der Germanistik über die Vormärzler gemacht. Von denen ist wohl nur noch Georg Büchner bekannt, dessen hessischer Landbote an Herwegh erinnert und dessen Leonce und Lena geradezu avantgardistisch war. Herwegh wurde in seiner Bedeutung m.E. von Marx verdrängt.
    Alte Erinnerungen … danke dafür
    Klausbernd 🙂

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    • Avatar von gkazakou gkazakou sagt:

      witzig, auch ich wählte den „Vormärz“ für meine mündliche Germanistikprüfung …Büchner ist zu Recht geblieben. Aber auch etliche Zeilen von Herwegh, auch wenn kaum noch jemand seinen Namen kennt. „Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will“ oder auch „der Freiheit eine Gasse“ sind immer noch bekannte Schlagwörter.

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  2. So viel Wissen um die Menschen, liebe Gerda!
    So viel Sarkasmus in den Lied-Zeilen und so viel Frust bei den sich täglich abrackernden armen Leuten, die meist am frühen Abend schon viel zu müde waren, um an Freiheit auch nur zu denken…
    Georg Büchner war mir ein Begriff, Georg Herwegh eher unbekannt

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