112 Stufen, 21: Begeisterung (Hegel)

Reiner hat ein „Mitmachding“ initiiert. Es geht darum, jeden Tag einen Text zu einem Wort zu posten, das sich auf der Holsteiner Treppe in Wuppertal, verteilt auf 9 Absätze befindet. Es reizt mich, da mitzumachen, allerdings eher nicht mit eigenen Textproduktionen, sondern mit literarischen Assoziationen und Gedichten anderer. Ich bin gespannt, welche Texte, Gedichte, Geschichten jedes dieser Wörter in meiner Erinnerung aufleuchten lässt. All diese Erinnerungen an Gelesenes und im Gedächtnis Aufgehobenes sollen mir einen nachklingenden Teppich weben, den ich über die Stufen lege, um noch einmal hinaufzusteigen.

 

Begeisterung (vom Geist beseelt), auch Enthusiasmus (vom Gott bewohnt) sind merkwürdige Wörter in einer Zeit, in der die meisten weder an Gott noch an den Geist glauben. Und doch ist der Ausdruck sehr im Schwange. Alle Welt ist ständig von irgendetwas begeistert: von einem Rezept, einem neuen Freund, einem gadget, einem Krieg, einer Reise…. Ohne Begeisterung komme kein bedeutendes Werk zustande, heißt es, der Begeisterte sei dem nur Tüchtigen überlegen, ohne Begeisterung sei man ein Philister und eigentlich schon halbtot undsoweiter.

Was ist das überhaupt: Begeisterung? Wie entsteht Begeisterung? Worin besteht sie? Kommt sie von außen auf mich zu oder entsteht sie im Innern? Was geschieht einem Menschen, wenn ihn die Begeisterung packt? Ist Begeisterung immer begrüßenswert? Wann wird sie gefährlich?

Da ich vor sehr langer Zeit Filosofie studierte, erinnerte ich mich heute auf der Suche nach einem Text daran, dass Friedrich Hegel in seinen Vorlesungen zur Ästhetik einiges dazu gesagt hat. Ich schaute nach, und tatsächlich, der Abschnitt C1c ist mit „Begeisterung“ überschrieben.  Quelle: Textlog.de. 

von sich selbst begeisterter Künstler

Friedrich Hegel

Die Begeisterung oder „Champagner gibt noch keine Poesie“

Die Tätigkeit der Phantasie und technischen Ausführung nun, als Zustand im Künstler für sich betrachtet, ist das, was man drittens Begeisterung zu nennen gewohnt ist.

α) In betreff auf sie fragt es sich zunächst nach der Art ihrer Entstehung, rücksichtlich welcher die verschiedenartigsten Vorstellungen verbreitet sind.

αα) Insofern das Genie überhaupt im engsten Zusammenhange des Geistigen und Natürlichen steht, hat man geglaubt, daß die Begeisterung vornehmlich durch sinnliche Anregung könne zuwege gebracht werden. Aber die Wärme des Bluts macht’s nicht allein, Champagner gibt noch keine Poesie; wie Marmontel z. B. erzählt, er habe in der Champagne in einem Keller bei sechstausend Flaschen vor sich gehabt, und es sei ihm doch nichts Poetisches zugeflossen. Ebenso kann sich das beste Genie oft genug morgens und abends beim frischen Wehen der Lüfte ins grüne Gras legen und in den Himmel sehen und wird doch von keiner sanften Begeisterung angehaucht werden.

ββ) Umgekehrt läßt sich die Begeisterung ebensowenig durch die bloß geistige Absicht zur Produktion hervorrufen. Wer sich bloß vornimmt, begeistert zu sein, um ein Gedicht zu machen oder ein Bild zu malen und eine Melodie zu erfinden, ohne irgendeinen Gehalt schon zu lebendiger Anregung in sich zu tragen, und nun erst hier und dort nach einem Stoffe umhersuchen muß, der wird aus dieser bloßen Absicht heraus, alles Talentes unerachtet, noch keine schöne Konzeption zu fassen oder ein gediegenes Kunstwerk hervorzubringen imstande sein. Weder jene nur sinnliche Anregung noch der bloße Wille und Entschluß verschafft echte Begeisterung, und solche Mittel anzuwenden beweist nur, daß das Gemüt und die Phantasie noch kein wahrhaftes Interesse in sich gefaßt haben. Ist dagegen der künstlerische Trieb rechter Art, so hat sich dies Interesse schon im voraus auf einen bestimmten Gegenstand und Gehalt geworfen und ihn festgehalten.

γγ) Die wahre Begeisterung deshalb entzündet sich an irgendeinem bestimmten Inhalt, den die Phantasie, um ihn künstlerisch auszudrücken, ergreift, und ist der Zustand dieses tätigen Ausgestaltens selbst – sowohl im subjektiven Innern als auch in der objektiven Ausführung des Kunstwerks; denn für diese gedoppelte Tätigkeit ist Begeisterung notwendig. Da läßt sich nun wieder die Frage aufwerfen, in welcher Weise solch ein Stoff an den Künstler kommen müsse. Auch in dieser Beziehung gibt es mehrfache Ansichten. Wie oft hört man nicht die Forderung aufstellen, der Künstler habe seinen Stoff nur aus sich selber zu schöpfen. Allerdings kann dies der Fall sein, wenn z. B. der Dichter »wie der Vogel singt, der in den Zweigen wohnet«. Der eigene Frohsinn ist dann der Anlaß, der auch zugleich aus dem Innern heraus sich selbst als Stoff und Inhalt darbieten kann, indem er zum künstlerischen Genuß der eigenen Heiterkeit treibt. Dann ist auch »das Lied, das aus der Kehle dringt, ein Lohn, der reichlich lohnet«. Auf der anderen Seite jedoch sind oft die größten Kunstwerke auf eine ganz äußerliche Veranlassung geschaffen worden. Die Preisgesänge Pindars z. B. sind häufig aus Aufträgen entstanden, ebenso ist den Künstlern für Gebäude und Gemälde der Zweck und Gegenstand unzähligemal aufgegeben worden, und sie haben sich doch dafür zu begeistern vermocht. Ja, es ist sogar eine vielfach zu vernehmende Klage der Künstler, daß es ihnen an Stoffen fehle, die sie bearbeiten könnten. Eine solche Äußerlichkeit und deren Anstoß zur Produktion ist hier das Moment der Natürlichkeit und Unmittelbarkeit, welche zum Begriff des Talents gehört und sich in Rücksicht auf den Beginn der Begeisterung daher gleichfalls hervorzutun hat. Die Stellung des Künstlers ist nach dieser Seite hin von der Art, daß er eben als natürliches Talent in Verhältnis zu einem vorgefundenen gegebenen Stoffe tritt, indem er sich durch einen äußeren Anlaß, durch ein Begebnis, oder wie Shakespeare z. B. durch Sagen, alte Balladen, Novellen, Chroniken in sich aufgefordert findet, diesen Stoff zu gestalten und sich überhaupt darauf zu äußern. Die Veranlassung also zur Produktion kann ganz von außen kommen, und das einzig wichtige Erfordernis ist nur, daß der Künstler ein wesentliches Interesse fasse und den Gegenstand in sich lebendig werden lasse. Dann kommt die Begeisterung des Genies von selbst. Und ein echt lebendiger Künstler findet eben durch diese Lebendigkeit tausend Veranlassungen zur Tätigkeit und Begeisterung – Veranlassungen, an welchen andere, ohne davon berührt zu werden, vorübergehen.

β) Fragen wir weiter, worin die künstlerische Begeisterung bestehe, so ist sie nichts anderes, als von der Sache ganz erfüllt zu werden, ganz in der Sache gegenwärtig zu sein und nicht eher zu ruhen, als bis die Kunstgestalt ausgeprägt und in sich abgerundet ist.

γ) Wenn nun aber der Künstler in dieser Weise den Gegenstand ganz zu dem seinigen hat werden lassen, muß er umgekehrt seine subjektive Besonderheit und deren zufällige Partikularitäten zu vergessen wissen und sich seinerseits ganz in den Stoff versenken, so daß er als Subjekt nur gleichsam die Form ist für das Formieren des Inhaltes, der ihn ergriffen hat. Eine Begeisterung, in welcher sich das Subjekt als Subjekt aufspreizt und geltend macht, statt das Organ und die lebendige Tätigkeit der Sache selber zu sein, ist eine schlechte Begeisterung. – Dieser Punkt führt uns zu der sogenannten Objektivität künstlerischer Hervorbringungen hinüber.

Künstler als Form für das Formieren von Inhalt

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About gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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12 Responses to 112 Stufen, 21: Begeisterung (Hegel)

  1. Schönes Zitat – viel an Begeisterung sieht Hegel ja in der Hemmung, den Gegenstand, kommunikativ, gedanklich, sinnlich nicht allzu schnell zu verzehren, im Grunde also im Aufschub der Auflösung ins Harmonische (der Außer-Sich-Drehung). Ohne das Spiel zu verderben, merke ich nur an, dass das nicht Hegels Originalworte sind, es sind die Worte aus den Notizen vieler inkohärenter Zuhörer, die im Nachgang als Vorlesung in der Ausgabe von Suhrkamp Hegel schmissige Worteskapaden auf die Zunge legen, die in seinen sonstigen Veröffentlichungen letzter Hand gar nicht zu finden sind. Dass diese Vorlesung nicht „nach Hegel“ heißt, ist immer noch ein kleines Gedächtnisverbrechen vom ollen Suhrkamp-Verlag. Viele Grüße und viel Sonne wünsche ich dir!

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    • Avatar von gkazakou gkazakou sagt:

      herzlichen Dank, Alexander. Und ich dachte schon, als ich dies Zitat las: diese Formulierung ist viel frischer und anschaulicher, als ich ihn im Gedächtnis hatte. Es ist also Studentensprache?

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    • Habe mich schon gewundert. Hegel gilt ja als einer der fürchterlichsten Stilisten unserer Sprache, und wird auch von Ludwig Reiners stets als abschreckendes Beispiel genommen. Diese Ausführungen hingegen lassen sich recht gut lesen.

      Das erinnert mich an die Sottise, die Reiners über sein anderes abschreckendes Beispiel schrieb: „Man hat versucht, Kant ins Deutsche zu übersetzen.“

      Mit Hegel ist es hier gelungen.

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      • Avatar von gkazakou gkazakou sagt:

        🙂 Danke für den Schmunzler! Es gibt übrigens sowohl bei Hegel (‘Wo die Minderheit der Mehrheit gehorchen muss, da ist keine Freiheit.’) als auch bei Kant („Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“) einige Sätze, die man durchaus verstehen kann. 😉

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  2. Von Heine, ein schlechtes Beispiel, denn ihm flossen die poetischen Einfälle bekanntlich zu, heißt es, er sei am Fuße der Venus von Milo, seinerzeit war die Dame bereits in Paris angekommen, zusammengesunken. Von ihrer Schönheit überwältigt. (Er war zu jenem Zeitpunkt bereits krank).

    Begeisterung kann also auch nur dem gelten, was andere an Einfällen hatten, geleistet haben, etwa dem Winzer und seinen 6000 Flaschen. Sie muß nicht selbst produktiv werden. Sie kann sich auch in der Anschauung und im Genuß (im Falle der Flaschen bis zum Überdruß) genügen.

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    • Avatar von gkazakou gkazakou sagt:

      ja, selbstverständlich ist die häufigste Form der Begeisterung die, sich an nicht selbst Geschaffenem zu ergötzen. Hier war wohl die Frage, wie diese schöne Himmelstochter dem Künstler dienstbar sein kann.

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  3. Ich habe spaßeshalber mal in meiner eigenen Gedichtedatei nachgesehen, ob ich irgenwann über die Begeisterung geschrieben habe und siehe da, Anfang März 2020 gab es eines mit dem Titel Zauber der Frühlingszeit und da fand ich tatsächlich auch die Begeisterung 🙂

    Wenn die Dinge Leben gewinnen
    Tassen tanzen und Teller springen

    Der Tisch vor Begeisterung
    aus den Fugen gerät
    mit den Stühlen philosophische
    Gespräche führt

    Springlebendige Lebensfreude explodiert
    Knospen sich öffnen
    Kinder singen und Wunder erwachen

    Dann haben wir ihn wieder
    den Zauber der Frühlingszeit

    Zur Begeisterung gehört ein Zauber … dem man erliegt

    Wir erliegen dem Zauber der Begeisterung 🙂

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  4. Ich bin als Schopenhauerianer ja grundsätzlich schlecht auf Hegel zu sprechen (ohne je ein Wort von ihm gelesen zu haben), aber hier hat er in allen Punkten recht. Auch und gerade im letzten: dass der Künstler nichts in seinem eigenen Werk zu suchen habe. Das ist heute sehr unmodern, aber darum nicht weniger wahr.

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