112 Stufen, 18: Ehrlichkeit (Ringelnatz)

Reiner hat ein „Mitmachding“ initiiert. Es geht darum, jeden Tag einen Text zu einem Wort zu posten, das sich auf der Holsteiner Treppe in Wuppertal, verteilt auf 9 Absätze befindet. Es reizt mich, da mitzumachen, allerdings eher nicht mit eigenen Textproduktionen, sondern mit literarischen Assoziationen und Gedichten anderer. Ich bin gespannt, welche Texte, Gedichte, Geschichten jedes dieser Wörter in meiner Erinnerung aufleuchten lässt. All diese Erinnerungen an Gelesenes und im Gedächtnis Aufgehobenes sollen mir einen nachklingenden Teppich weben, den ich über die Stufen lege, um noch einmal hinaufzusteigen.

„Ehrlich!“, sagen wir oft, um zu betonen, dass wir nicht lügen und täuschen wollen. Wir betonen, dass wir bei der Wahrheit zu bleiben belieben. Doch selbst wenn wir tatsächlich diese Absicht haben – kennen wir denn „die Wahrheit“? Werden wir nicht ständig selbst belogen und betrogen, getäuscht und in die Irre geführt, und wiederholen all die Lügen, die uns aufgetischt werden, gutmütig-ehrlich, weil wir sie für die Wahrheit halten?

Natürlich halten wir nicht alles, was man uns sagt, für die Wahrheit, sondern nur das, was uns „einleuchtet“. Und was leuchtet uns ein? Was unseren Interessen und unserem Lebenskreis entspricht. Diese Wahrheit verkünden wir in ehrlicher Absicht und wundern uns sehr, wenn wir dafür kein Lob ernten. Denn ach, andere kommen zu anderen Wahrheiten, die sie mit gleich ehrlicher Absicht vertreten. Und dann gibts Streit.

Streit.

Joachim Ringelnatz

Mächtig ist die Ehrlichkeit.
Glückt es listigen Gewalten,
Sie im Gradweg aufzuhalten,
Immer nur für kurze Zeit.

Doch die kurze Zeit kann lang sein,
Länger als ein Flügelheben,
Länger als ein wartend Leben,
Und das Ehrliche kann bang sein.

Die um Falsch und Ehrlich deuten,
Ältere mit jüngren Leuten,
Irreleitend, irrgeleitet,
Wie’s um Falsch und Ehrlich streitet – –,

All die Zeit, die sie vergeuden,
Könnte die mit Lustspielfreuden
Besser ausgenossen sein?
Ich sag: Nein!

Wenn ich doch so ehrlich wäre
Wie ein neugebornes Kind,
Und mich trüge dann ein Wind –
Freiballons – ins Ungefähre.

Schlag mich einer flach und breit:
Mächtig ist die Ehrlichkeit.

(zitiert nach: Die deutsche Gedichtebibliothek)

Eigentlich bleibt nur: sich selbst gegenüber möglichst ehrlich zu sein. Ehrlich auch in seiner Kunst sein, die Begrenztheit des eigenen Talents, der eigenen Bedeutung anerkennen, und dennoch fleißg sich bemühen und nicht hochstapeln. Das liegt Ringelnatz am Herzen, auch wenn Flunkereien und Seemansgarn durchaus zu seinem poetischen Arsenal gehörten.

Jener kleinsten ehrlichen Artisten
Denk‘ ich, die kein Ruhm belohnt,
Die ihr Dasein ärmlich, fleißig fristen
Und in denen nur die Zukunft wohnt.

In Programmen stehen sie bescheiden,
Und das Publikum bleibt ihnen stumm.
Dennoch geben sie ihr Bestes und beneiden
Größre nicht. Und wissen nicht, warum.

Grober Dünkel drückt sie in die Ecken.
Ihre Grenze ist der Rampenschein.
Aber nachts vor kleinen Mädchen recken
Sie sich auf in Künstlerschwärmerein.

Die ihr bleiben sollt, wo wir begonnen,
Mögt ihr ruhmlos sein und unbegabt,
Doch euch tröstet: Uns ist viel zerronnen,
Schönes, was ihr jetzt noch in euch habt.

Ehrlichkeit ist Kunst und derart selten,
Daß es wenig Wichtigeres gibt.
Euer Schicksal wird euch reich vergelten,
Daß ihr euer Schicksal habt geliebt.

(zitiert nach Projekt Gutenberg)

 

 

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About gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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3 Responses to 112 Stufen, 18: Ehrlichkeit (Ringelnatz)

  1. Wenn ich über mich ziemlich bescheid weiß, kann ich sagen, woher meine Ansichten kommen – und wieso ich sie nicht mir nichts dir nichts korrigieren mag. Kann sein, daß ich manche Details nicht kenne, die hat ein anderer in Kurosawas Lustwäldchen wahrgenommen, zumindest erzählt er das.

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