112 Stufen, 16: Sprechen (Schiller)

Reiner hat ein „Mitmachding“ initiiert. Es geht darum, jeden Tag einen Text zu einem Wort zu posten, das sich auf der Holsteiner Treppe in Wuppertal, verteilt auf 9 Absätze befindet. Es reizt mich, da mitzumachen, allerdings eher nicht mit eigenen Textproduktionen, sondern mit literarischen Assoziationen und Gedichten anderer. Ich bin gespannt, welche Texte, Gedichte, Geschichten jedes dieser Wörter in meiner Erinnerung aufleuchten lässt. All diese Erinnerungen an Gelesenes und im Gedächtnis Aufgehobenes sollen mir einen nachklingenden Teppich weben, den ich über die Stufen lege, um noch einmal hinaufzusteigen.

Fünfzehn Stufen habe ich bereits erklommen und der erste Treppenabsatz ist erreicht. Aufatmend schaue ich zurück. Das war ein spannender Weg, auf dem ich sehr Unterschiedliches in meinem Gedächtnis fand. Merkwürdig war mir, wie sich die einzelnen Stücke trotz aller Verschiedenheit lebensgeschichtlich verbanden.

Ich rekapitulierere, hinabblickend: Vergeben (Ricarda Huch, Tolstoi) – Gewissen (Degenhardt) – beschützen (Hesse) – Jauchzen (Johann Sebastian Bach) – Ehre (Goethe, Faust) – Familie (Cooper) – Erschrecken (Lukas-Evangelium) – Angst (Kaléko) – Unschuld (Nietzsche) – Heimat (Fontane) – Liebkosen (Tolstoi) – Wärmen (Wolfgang Borchert) – Mutter (Tucholsky) – Streicheln (Steinbeck) – Glück (Goethe).

Und nun gehts zur nächsten Stufenfolge, beginnend mit dem Wort „Sprechen“. Als erstes  kommt mir Schillers Ballade „Die Bürgschaft“  in den Sinn. Hier wird das Sprechen zum mutigen Geständnis (ja, ich war’s) und zugleich zum Versprechen, zum Schwur der Freundestreue, die der Todesdrohung standhält.

Wann gilt es zu sprechen, wann ist das Schweigen die stärkste Antwort? Wann steigert sich das Sprechen zum Rufen, zum flehenden Gebet, wann wird es zum beiläufigen Sagen? Auch die Natur spricht, es donnern die Wogen, die geschwätzige Quelle murmelt…

Der Tyrann Dionys


Friedrich Schiller, Die Bürgschaft (1798)

1. Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich
Damon, den Dolch im Gewande;
Ihn schlugen die Häscher in Bande.
«Was wolltest du mit dem Dolche, sprich
Entgegnet ihm finster der Wüterich.
«Die Stadt vom Tyrannen befreien!»
«Das sollst du am Kreuze bereuen!»


2. «Ich bin», spricht jener, «zu sterben bereit
Und bitte nicht um mein Leben;
Doch willst du Gnade mir geben,
Ich flehe dich um drei Tage Zeit,
Bis ich die Schwester dem Gatten gefreit;
Ich lasse den Freund dir als Bürgen
Ihn magst du, entrinn ich, erwürgen.»


3. Da lächelt der König mit arger List
Und spricht nach kurzem Bedenken:
«Drei Tage will ich dir schenken.
Doch wisse, wenn sie verstrichen, die Frist,
Eh du zurück mir gegeben bist,
So muss er statt deiner erblassen;
Doch dir ist die Strafe erlassen


4. Und er kommt zum Freund:«Der König gebeut,
Dass ich am Kreuz mit dem Leben
Bezahle das frevelnde Streben;
Doch will er mir gönnen drei Tage Zeit,
Bis ich die Schwester dem Gatten gefreit.
So bleib du dem König zum Pfande,
Bis ich komme, zu lösen die Bande.»


5. Und schweigend umarmt ihn der treue Freund
Und liefert sich aus dem Tyrannen;
Der andere ziehet von dannen.
Und ehe das dritte Morgenrot scheint,
Hat er schnell mit dem Gatten die Schwester vereint,
Eilt heim mit sorgender Seele,
Damit er die Frist nicht verfehle.


6. Da gießt unendlicher Regen herab,
Von den Bergen stürzen die Quellen.
Und die Bäche, die Ströme schwellen.
Und er kommt ans Ufer mit wanderndem Stab
Da reißet die Brücke der Strudel hinab,
Und donnernd sprengen die Wogen
Des Gewölbes krachenden Bogen.


7. Und trostlos irrt er an Ufers Rand:
Wie weit er auch spähet und blicket
Und die Stimme, die rufende, schicket
Da stößet kein Nachen vom sichern Strand,
Der ihn setze an das gewünschte Land;
Kein Schiffer lenket die Fähre,
Und der wilde Strom wird zum Meere.

8. Da sinkt er ans Ufer und weint und fleht,
Die Hände zum Zeus erhoben:
«O hemme des Stromes Toben!
Es eilen die Stunden, im Mittag steht
Die Sonne, und wenn sie niedergeht
Und ich kann die Stadt nicht erreichen,
So muss der Freund mir erbleichen.»

9. Doch wachsend erneut sich des Stromes Wut,
Und Welle auf Welle zerrinnet,
Und Stunde an Stunde entrinnet;
Da treibt ihn die Angst, da fasst er sich Mut
Und wirft sich hinein in die brausende Flut
Und teilt mit gewaltigen Armen
Den Strom – und ein Gott hat Erbarmen.

10. Und gewinnt das Ufer und eilet fort
Und danket dem rettenden Gotte;
Da stürzet die raubende Rotte
Hervor aus des Waldes nächtlichem Ort,
Den Pfad ihm sperrend, und schnaubet Mord
Und hemmet des Wanderers Eile
Mit drohend geschwungener Keule.

11. «Was wollt ihr?», ruft er vor Schrecken bleich,
«Ich habe nichts als mein Leben,
Das muss ich dem Könige geben!»
Und entreißt die Keule dem nächsten gleich:
«Um des Freundes willen erbarmet euch!»
Und drei mit gewaltigen Streichen
Erlegt er, die andern entweichen.

12. Und die Sonne versendet glühenden Brand,
Und von der unendlichen Mühe
Ermattet, sinken die Knie:
«O, hast du mich gnädig aus Räubershand,
Aus dem Strom mich gerettet ans heilige Land,
Und soll hier verschmachtend verderben,
Und der Freund mir, der liebende, sterben!»

13. Und horch! da sprudelt es silberhell
Ganz nahe wie rieselndes Rauschen,
Und stille hält er, zu lauschen.
Und sieh, aus dem Felsen, geschwätzig, schnell,
Springt murmelnd hervor ein lebendiger Quell,
Und freudig bückt er sich nieder
Und erfrischet die brennenden Glieder.

14. Und die Sonne blickt durch der Zweige Grün
Und malt auf den glänzenden Matten
Der Bäume gigantische Schatten;
Und zwei Wanderer sieht er die Straße ziehn
Will eilenden Laufes vorüberfliehn.
Da hört er die Worte sie sagen:
«Jetzt wird er ans Kreuz geschlagen.»

15. Da schimmern in Abendrots Strahlen
Von ferne die Zinnen von Syrakus
Und entgegen kommt ihm Philostratus
Des Hauses redlicher Hüter,
Der erkennet entsetzt den Gebieter:

16. «Zurück! Du rettest den Freund nicht mehr
So rette das eigene Leben! Den Tod erleidet er eben.
Von Stunde zu Stunde gewartet er
Mit hoffender Seele der Wiederkehr;
Ihm konnte den mutigen Glauben
Der Hohn des Tyrannen nicht rauben.»

17. «Und ist es zu spät und kann ich ihm nicht
Ein Retter willkommen erscheinen,
So soll mich der Tod ihm vereinen.
Des rühme der blutge Tyrann sich nicht,
Dass der Freund dem Freunde gebrochen die Pflicht;
Er schlachte der Opfer zweie
Und glaube an Liebe und Treue.»

18. Und die Sonne geht unter, da steht er am Tor
Und sieht das Kreuz schon erhöhet,
Das die Menge gaffend umstehet;
An dem Seile schon zieht man den Freund empor,
Da zertrennt er gewaltig den dichten Chor:
«Mich, Henker», ruft er, «erwürget!
Da bin ich, für den er gebürget!»

19. Und Erstaunen ergreifet das Volk umher;
In den Armen liegen sich beide
Und weinen vor Schmerzen und Freude.
Da sieht man kein Auge tränenleer,
Und zum Könige bringt man die Wundermär;
Der fühlt ein menschliches Rühren
Lässt schnell vor den Thron sie führen.

20. Und blicket sie lange verwundert an;
Drauf spricht er: «Es ist euch gelungen,
Ihr habt das Herz mir bezwungen;
Und die Treue, sie ist doch kein leerer Wahn;
So nehmet auch mich zum Genossen an.
Ich sei, gewährt mir die Bitte,
In eurem Bunde der Dritte.»

Zuschauer der abgesagten Kreuzigung

 

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About gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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3 Responses to 112 Stufen, 16: Sprechen (Schiller)

  1. Es sei Silber, Schweigen aber Gold. Andererseits sagte ein anderer: „Wenn du geredet hättest, Desdemona!“ So viele Worte werden gesagt, so wenige sinnvolle, noch weniger gute. Sollten wir sparsamer damit umgehen? Oder sie nicht immer auf die Schweigensgoldwaage legen? –
    Bei einer abgesagten Kreuzigung würde ich noch mit zuschauen. Wenn auch nicht besonders gern. Bei einer stattfindenden nicht, da will ich nicht hin!

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    • Avatar von gkazakou gkazakou sagt:

      Ich denke, die Leute werden sich über das nicht stattfindende Spektakel getröstet haben. Denn Kreuzigungen sieht man ständig, aber einen Tyrannen, der sich mit seinem Möchtegern-Mörder verbrüdert – das ist schon was Besonderes.

      Wann Sprechen – wann Schweigen angesagt ist: eine situativ immer wieder neu zu beantwortende Frage.

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  2. Wieder mal ging ein Kommi zu den spams…

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