112 Stufen, 10: Familie (David Cooper)

Reiner hat ein „Mitmachding“ initiiert. Es geht darum, jeden Tag einen Text zu einem Wort zu posten, das sich auf der Holsteiner Treppe in Wuppertal, verteilt auf 9 Absätze befindet. Es reizt mich, da mitzumachen, allerdings eher nicht mit eigenen Textproduktionen, sondern mit literarischen Assoziationen und Gedichten anderer. Ich bin gespannt, welche Texte, Gedichte, Geschichten jedes dieser Wörter in meiner Erinnerung aufleuchten lässt. All diese Erinnerungen an Gelesenes und im Gedächtnis Aufgehobenes sollen mir einen nachklingenden Teppich weben, den ich über die Stufen lege, um noch einmal hinaufzusteigen.

Als ich mich 1967 der Sozialpädagogik zuwandte, war Cooper, radikaler Kritiker der psychiatrischen Institutionen, in antiautoritären, „revolutionären“ Kreisen up-to-date. In jenem Jahr erschien sein Buch Psychiatry and Anti-Psychiatry und wurde von unserer Generation mit begeisterter Zustimmung aufgenommen. 1967 organisierten er und seine Mitstreiter auch den inzwischen legendären Kongress Dialectics of Liberation in London. Na, kennst du die damaligen Vordenker einer vom Kapitalismus und seinen Plagen befreiten Welt noch? Schau mal hier!

Cooper, der den Begriff „Anti-Psychiatrie“ prägte, und andere Vordenker jener Zeit revolutionierten die Lehre von den psychischen Erkrankungen. Psychosen seien Ergebnis der gesellschaftlichen Verhältnisse, und die Institution, die die Individuen entsprechend zurichte und konditioniere, sei die Familie. Und so war es nur konsequent, den Tod der Familie zu fordern. 1971 erschien dann das Buch „The Death of the Family“, und ja, auch ich fand, dass es im Großen und Ganzen ins Schwarze traf. Von ganzem Herzen begrüßte ich die damals aufkommende anti-autoritäre Erziehung und beteiligte mich 1971 am Aufbau eines Kinderladens, den mein Sohn im Alter von 2-7  mit großer Freude besuchte. Für mich war diese Initiative die Rettung, denn nur durch sie konnte ich Arbeit und Familie in Einklang bringen.

Den ideologischen Überbau, der in manchen Kinderläden zu endlosen Debatten und rigorosen Forderungen führte, fand ich freilich schon damals ärgerlich. Ist es nicht besser, beides – die Qualitäten der Familie und des selbstorganisierten freien Miteinanders der Kinder – zu nutzen, anstatt sie gegeneinander auszuspielen? Genau das taten wir in unserer Gruppe, und so habe ich dieses Experiment in dankbarer Erinnerung.

 Frankfurter Kinderladen, 1974, Aquarell nach Foto.

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About gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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6 Responses to 112 Stufen, 10: Familie (David Cooper)

  1. Die Bewegung war, vermutlich mit allen Irrtümern, notwendig. Um alte, starre Systeme aufzubrechen. Dass z.B. psychiatrische Erkrankungen nicht einfach generell sozial begründet werden können, sondern oft genug physiologische Ursachen und Auswirkungen haben wollte oder konnte der gesellschaftlich bewegte Mensch nicht sehen.
    Und so läge, ganz recht, im Sehen der nebeneinander bestehenden einflussreichen Komplexe die Wahrheit. Das ist momentan wieder wichtig, denn gerade erleben wir ja auch hier ein Zurückgehen auf urig anmutende Werte, die weit vor die Tage von Camphill reichen. Offenbar ist der Mensch, ist die Gesellschaft einigermaßen unfähig zu Kompromissen wie auch überhaupt zum Erkennen der Kompexität der Wirklichkeit.

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    • Avatar von gkazakou gkazakou sagt:

      so sehe ich es auch. Wichtig und geradezu überfällig war, der gesellschaftlichen Komponente endlich genügend Aufmerksamkeit zu schenken, die im Gefolge des Nazi-Verbots, soziologische Fragen zu stellen, in Deutschland total unterbelichtet war. Vorherrschend war immer noch die Mischung aus Vererbungs- und Charakterlehre des 19. Jahrhunderts. Ich lese grade von Tolstoi „Auferstehung“, wo er mit den „neuestennErkenntnissen der Naturwissenschaften“ bezüglich „charakterlicher Fehler und angeborener Neigungen zum Verbrechen“ wütend abrechnet. Er stellt die sozialen Bedingungen ganz in den Mittelpunkt, und die sind es ja auch, die am ehesten zu beeinflussen wären durch geeignetes staatliches Handeln.

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  2. Ein schönes Aquarell!

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  3. Tolles Aquarell, gerda!

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