112 Stufen, 9: Erschrecken (Lukas)

Reiner hat ein „Mitmachding“ initiiert. Es geht darum, jeden Tag einen Text zu einem Wort zu posten, das sich auf der Holsteiner Treppe in Wuppertal, verteilt auf 9 Absätze befindet. Es reizt mich, da mitzumachen, allerdings eher nicht mit eigenen Textproduktionen, sondern mit literarischen Assoziationen und Gedichten anderer. Ich bin gespannt, welche Texte, Gedichte, Geschichten jedes dieser Wörter in meiner Erinnerung aufleuchten lässt. All diese Erinnerungen an Gelesenes und im Gedächtnis Aufgehobenes sollen mir einen nachklingenden Teppich weben, den ich über die Stufen lege, um noch einmal hinaufzusteigen.

Der Evangelist Lukas schildert in einer eindrucksvollen Szene, wie der Erzengel Gabriel zu einer jungen Frau namens Maria tritt und ihr verkündet, dass sie den Thronfolger von König David zur Welt bringen wird. „Wie soll das zugehen“, fragt sie, „da ich doch von keinem Manne weiß?“

Maria erschrickt.  Das kann ich gut verstehen. Ich stelle mir vor, wie ich das aufgenommen hätte als junge Frau, wenn plötzlich ein gewaltiger Engel in meinem Zimmer stünde und mir Ungeheuerliches verkündete. Ich werde schwanger, aber nicht von meinem Mann? Mein Sohn soll das Erbe des Throns eines Königreiches antreten, das es längst nicht mehr gibt? Palästina steht ja seit sechzig Jahren unter römische Herrschaft. Der von Rom eingesetzte Statthalter, König Herodes, der das Gebiet mit eiserner Faust regierte, ist tot. Überall gärt es, es kommt zu Aufständen, die blutig niedergeschlagen werden. Die wildesten Prophezeiungen machen die Runde… Und nun erfahre ich, eine junge Frau, dass ich demnächst schwanger sein werde und Mutter des Königs und Reichserben….

Das Erschrecken dieser jungen Frau steht am Anfang dessen, was wir unser „christliches Abendland“ nennen und in dessen Tradition auch ich stehe. Und so habe auch ich in meiner Kindheit diesen Text immer wieder gehört und in mir aufbewahrt.

(Ich nehme den Text in der Übersetzung von Luther, der sich mir tief eingeprägt hat. Die neueren Übersetzungen mag ich nicht so.)

Verkündigung von Ustjug. Russische Ikone, 12. Jahrhundert.

Russische Ikone, anonym. Tretyakov Gallery, Wikimedia

Die Ankündigung der Geburt Jesu

Und im sechsten Monat wurde der Engel Gabriel von Gott gesandt in eine Stadt in Galiläa, die heißt Nazareth, zu einer Jungfrau, die vertraut war einem Mann mit Namen Josef vom Hause David; und die Jungfrau hieß Maria. Und der Engel kam zu ihr hinein und sprach: Sei gegrüßt, du Begnadete! Der Herr ist mit dir! Sie aber erschrak über die Rede und dachte: Welch ein Gruß ist das? Und der Engel sprach zu ihr: Fürchte dich nicht, Maria! Du hast Gnade bei Gott gefunden. Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, dem sollst du den Namen Jesus geben. Der wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden; und Gott der Herr wird ihm den Thron seines Vaters David geben, und er wird König sein über das Haus Jakob in Ewigkeit, und sein Reich wird kein Ende haben.

Da sprach Maria zu dem Engel: Wie soll das zugehen, da ich doch von keinem Manne weiß? Der Engel antwortete und sprach zu ihr: Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten; darum wird auch das Heilige, das geboren wird, Gottes Sohn genannt werden. Und siehe, Elisabeth, deine Verwandte, ist auch schwanger mit einem Sohn, in ihrem Alter, und ist jetzt im sechsten Monat, sie, von der man sagt, dass sie unfruchtbar sei. Denn bei Gott ist kein Ding unmöglich. Maria aber sprach: Siehe, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie du gesagt hast. Und der Engel schied von ihr.

Leonardo da Vinci, um 1472–1475, Uffizien (Wikipedia)

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About gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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2 Responses to 112 Stufen, 9: Erschrecken (Lukas)

  1. Avatar von brigwords brigwords sagt:

    Das Erschrecken dieser jungen Frau steht am Anfang dessen, was wir unser „christliches Abendland“ nennen
    Wow – wir bräuchten dringend wieder ein heiliges Erschrecken!

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