Griechisches Alphabet des freien Denkens: H wie ΗΤΤΑ (Niederlage)

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H, auszusprechen Ita,  ist der 7. Buchstabe des griechischen Alphabets. Er sieht aus wie H in Heer und wurde früher auch so gesprochen, nämlich als angehauchtes gelängtes e, also hḗ.  Heute spricht man es als i – genauso wie die anderen vier (!) Schreibweisen von i.

Dass es einmal HE war, siehst du an Wörtern wie Ηρα =Hera und Ηρακλής=Herakles, Ήλιος=Helios und Ηδονή =Hedonie, Ηράκλειτος=Heraklit und Ηγεμονία=Hegemonie. Auch das Wort Ethik beginnt mit H und hat gleich noch zwei weitere H im Gefolge: HΘΗΚΉ.

So viele und noch mehr schöne Wörter habe ich zur Auswahl, um mein Alphabet des freien Denkens zu bestücken  – und wähle ein so unschönes Wort wie HTTA – Niederlage? Wer mag schon Niederlagen? Wir hatten das ja schon mal, als ich bei Δ, anstatt des schönen Wortes Demokratie das unschöne ΔΟΥΛΕΙΑ=Arbeit, Sklaverei wählte. Ja, warum nur? Was hat die Niederlage mit dem freien Denken zu tun?

Du vermutest vielleicht: weil das freie Denken von einer Niederlage zur nächsten schreitet und wir trotz aller Bemühungen um Klarsicht im Sumpf des Postfaktischen und der Fake News zu versinken drohen? Doch nein, an so was denke ich nicht, überhaupt nicht.

Ich denke an etwas ganz anderes. Ich stelle mir, nur mal versuchsweise,  vor, das „Dritte Reich“ hätte sich triumphal in ganz Europa durchgesetzt. Das ist der Alptraum vom Endsieg über den letzten Krümel freien Denkens, der sich vielleicht noch irgendwo versteckt hatte! Die Niederlage der deutschen Truppen rettete uns vor diesem Alptraum. Zu Recht wurde sie als Befreiung gefeiert – leider nicht in Westdeutschland. Oder nehmen wir das Sowjet-Regime. Als es zusammenbrach, konnte sich aus seinen Trümmern der freie Geist retten, soweit er nicht in den Gulags umgekommen war. Und wie wars im alten Rom? Wurde es etwa freiheitlicher, als es von Sieg zu Sieg schritt? Natürlich nicht. Es versklavte immer ungehinderter Menschen und Völker. Such in der Geschichte, so viel du willst: Du wirst keine bescheidenen Sieger finden. Erst die eigene bittere Niederlage bringt ihn zur Besinnung. Doch was hilfts? Jetzt ist es ein anderer, der siegt – und die Chose geht von vorne an. „Sieg ist vor allem Revanche“, stellte ein kluger Schweizer (Alain de Botton) fest.

Ich habe bei meinem „Lob der Niederlage“ freilich noch mehr im Sinn. Ich denke, das ganze mörderische Spiel von Sieg und Niederlage – diese endlose Abfolge von wenigen glücklichen Siegern und einem Haufen unglücklicher Verlierer – gehört abgeschafft. Legen wir die Waffen nieder! Das wäre die schönste Niederlage! Oder, wie Orwell sagt: „Der schnellste Weg, einen Krieg zu beenden, ist die Niederlage“.

Brecht meint, dass die Siege der wenigen „da oben“ die Niederlage der vielen „da unten“ mit einschließe. Wie recht er hat! Man braucht sich ja nur irgendeine berühmte Schlacht vor Augen zu führen. ZB die „Völkerschlacht zu Leipzig“.

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Vladimir Moschkow, Völkerschlacht von Leipzig, 1815)

Wer siegte? Wer erlitt eine Niederlage? Weißt du’s noch? Rührt es dich? „Von den rund 600.000 beteiligten Soldaten wurden 92.000 getötet oder verwundet“ – weiß Wikipedia. „Rund“, klar, es kommt auf den Einzelnen hier nicht an, es war ja nur ein Vater, ein Bruder, ein Sohn, er hatte nur ein ganz unbedeutendes Schicksal. Was gehen uns die bitteren Tränen von irgendwem an? 1913 wurde ein Denkmal für diesen Sieg – denn ja, es war ein Sieg und keine Niederlage – eingeweiht, grad rechtzeitig, bevor noch weitere solche großartigen Siege stattfanden..

Wie zum Beispiel die von Verdun:

Wie überhaupt diese Siege in den ersten fünf Monaten des Ersten Weltkriegs: bis Weihnachten waren in Flandern „160.000 britische Soldaten gefallen, Frankreich und Deutschland verloren je über 300.000 junge Männer“. So berichtet der Spiegel in einer Reminiszenz an das Weihnachtswunder von 1914: Denn auch das geschah: „Gegen 10.00 Uhr morgens“, schrieb ein britischer Captain an seine Mutter,  „sah ich von meinem Unterstand aus einen mit den Armen wedelnden Deutschen sowie zwei weitere, die aus ihrem Schützengraben kletterten und auf uns zukamen. Wir wollten schon auf sie feuern, als wir sahen, dass sie unbewaffnet waren, also ging einer von unseren Männern zu ihnen hin – und binnen zwei Minuten wuselten zwischen den Gräben Soldaten, und Offiziere beider Seiten schüttelten sich die Hände und wünschten sich fröhliche Weihnachten.“fuer-einen-tag-brueder-das

Ein paar Tage dauert das Wunder, dann wird es von den Vorgesetzten im weit entfernten Berlin gewaltsam beendet. Auf Fraternisieren zu Kriegszeiten steht die Todesstrafe. Das fehlte ja noch, dass alle so dächten wie dieser britische Veteran: „dass endlich Schluss sein möge. Wir litten doch alle gleichermaßen unter Läusen, Schlamm, Kälte, Ratten und Todesangst“. Wenn alle so dächten! Unsere schönen Siege wären dahin! (Foto und Zitate  stammen vom Spiegel-Wissenschaft online, 2014)

Wer siegt, denkt ans Siegen und immer Weitersiegen. O, die deutschen Heere eilten im Zweiten Weltkrieg von Sieg zu Sieg, der Jubel wollte kein Ende nehmen. „Noch mehr solche Siege, und wir sind verloren“, sagte Pyrrhus I (319/318–272 v. Chr.) nach einer gewonnenen Schlacht. Der Pyrrhus-Sieg ist seither sprichwörtlich, aber manche scheinen ihn vergessen zu haben. Brecht dichtete für die glücklichen Frauen der siegenden deutschen Soldaten ein Ständchen.

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Berthold Brecht
Und was bekam des Soldaten Weib / Aus der alten Hauptstadt Prag? / Aus Prag bekam sie die Stöckelschuh / Einen Gruß und dazu die Stöckelschuh / Das bekam sie aus der Stadt Prag.

Und was bekam des Soldaten Weib / Aus Warschau am Weichselstrand? / Aus Warschau bekam sie das leinene Hemd / So bunt und so fremd, ein polnisches Hemd! / Das bekam sie vom Weichselstrand.

Und was bekam des Soldaten Weib / Aus Oslo über dem Sund? / Aus Oslo bekam sie das Kräglein aus Pelz. / Hoffentlich gefällt’s, das Kräglein aus Pelz! / Das bekam sie aus Oslo am Sund.

Und was bekam des Soldaten Weib / Aus dem reichen Rotterdam? / Aus Rotterdam bekam sie den Hut. / Und er steht ihr gut, der holländische Hut / Den bekam sie aus Rotterdam.
Und was bekam des Soldaten Weib / Aus Brüssel im belgischen Land? / Aus Brüssel bekam sie die seltenen Spitzen / Ach, das zu besitzen, so seltene Spitzen! / Die bekam sie aus belgischem Land.
Und was bekam des Soldaten Weib / Aus der Lichterstadt Paris? / Aus Paris bekam sie das seidene Kleid. / Zu der Nachbarin Neid das seidene Kleid. / Das bekam sie aus Paris.
…. Die Fortsetzung kennst du, kennen wir alle.
Es braucht eine tüchtige Niederlage, damit man mit dem Siegen aufhört und mit dem Denken anfängt.

Wer frei denkt, versteht: Die Siege des Einen sind die Niederlage des anderen. Es gibt keine Siege ohne Niederlagen – außer, der Kampf spielt sich im eigenen Inneren ab. Aber von dem rede ich hier nicht.

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Leonardo, Die Schlacht von Anghiari, Kopie von Rubens. Das Original ging verloren.

Ich habe die Fotos dieses Artikels aus dem www zusammengetragen in der Hoffnung, keine copyrights verletzt zu haben. Wenn doch, bitte ich um Benachrichtigung. Ich werde die entsprechenden Bilder umgehend entfernen.

Über gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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17 Antworten zu Griechisches Alphabet des freien Denkens: H wie ΗΤΤΑ (Niederlage)

  1. kunstschaffende schreibt:

    Die größte Niederlage für die Verantwortlichen wäre, stellt Euch vor es ist Krieg und keiner geht hin, dann kommt der Krieg zu Euch und die Niederlage müsst ihr teilen (Bert Brecht).
    Gäbe es nur ein Patentrezept!

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  2. mmandarin schreibt:

    Dein Artikel geht unter die Haut und noch tiefer. Warum nur ach warum sind wir Menschen so? Wer kann die Antwort geben? Marie

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  3. finbarsgift schreibt:

    Wieder eine äußerst beeindruckende Buchstaben-Welt, die du heute eingestellt hast…

    Mit jedem Krieg sind Sieg und Niederlage verbunden, bis hin zum fatalen Pyrrhussieg, der auch eine ist.

    Für mich ist jeder Krieg an sich IMMER nuuuur eine Niederlage, nämlich für die Menschheit, die bis dato nicht gelernt hat – trotz beeindruckender Evolution – sich nicht selbst zu plagen und zu geißeln!

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  4. Ingrid Spieker schreibt:

    Oh Gerda, dein schriftlicher Beitrag, die Fotos grenzen bei mir an Unerträglichkeit, lähmen mich in der grad momentanen Situation in der Welt. H wie HTTA Niederlage – hier im Kampf! Es gibt doch auch andere Bezüge. Weihnachten ist für mich immer noch das Fest des Friedens und der Hoffnung.
    Ich trauere um unsere humanitäre und LiebesNiederlage im HEUTE, versuche meine Energien in LIEBE zu verwandeln und auszusenden.
    Ingrid

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  5. gkazakou schreibt:

    Liebe Ingrid, die „grad momentane Situation in der Welt“ (eigentlich eine permanente) ist es, weshalb ich meinen Beitrag schrieb. Ich schrieb von der Dialektik Sieg-Niederlage, von den Leiden der „da unten“, egal ob sie auf der sogenannten Sieger- oder Verliererseite stehen, ich schrieb von der Weihnachtspause im 1. Weltkrieg, die den Irrsinn des Kriegs dick unterstrich, weshalb das „Fraternisieren“ von „denen da oben“ schnellstens unterbunden wurde, ich schrieb vor allem: „Legen wir die Waffen nieder! Das wäre die schönste Niederlage!“ Mein Bezug ist: wollen wir doch endlich begreifen, dass Siegen-wollen immer auch bedeutet, die Niederlage anderer zu wollen. Mit „Wir“ meine ich die Menschheit als Ganzes, denn ein Ganzes ist sie. Ich finde, das ist eine Friedens-Weihnachtsbotschaft, und sie steht nicht konträr zu dem, was du versuchst: Kriegerische Energien in Toleranz und Liebesenergien umzuwandeln. Liebe Grüße dir! Gerda

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  6. Hella schreibt:

    Liebe Gerda, ich verstehe Ingrids Einwand sehr gut. Und ich meine, so gut ich auch Dich zu verstehen glaube: Es kommt sehr darauf an, wohin man seine Gedanken zu Weihnachten lenkt. Falls sie reale dynamische Kräfte sind, vielleicht doch mehr zur christlichen Botschaft? zur Hoffnung, zur Zukunft? Ich grüße Dich herzlich, Deine Hella

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    • gkazakou schreibt:

      Herzlichen Dank, liebe Hella. Ich verstehe dich, verstehe auch Ingrid sehr gut. Doch meine ich, dass der Gedanke der Niederlage (insbesondere wenn es die Niederlegung der Waffen beinhaltet) sehr gut in die christliche Botschaft passt. Denn das ist hoffnungsvolle Zukunftsmusik pur. Finde ich. Sei von Herzen gegrüßt. Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen. Gerda

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  7. bruni8wortbehagen schreibt:

    Jeder Krieg ist eine Niederlage! Oh ja!
    Genau so sehe ich es auch und als ich Niederlage las, war mein allererster Gedanke auch das Dritte Reich und wie gut war sie, diese Niederlage, wie überaus gut!
    Kanonenfutter waren sie alle, die armen Tröpfe, die von unten, die für die oben ihr Leben geben mußten…Immer!
    Der erste Weltkrieg…, wie grausam wurden sie verstümmelt und einige konnten lebend überstehen. Solch ein Glück hatte der Vater meiner Mutter, mein Opa. Er hat die Kriege verdaut, mein Vater nicht…wie ich heute erkennen kann
    Gut, diese Niederlagen, die beendeten, was nie hätte beginnen dürfen.

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  8. bruni8wortbehagen schreibt:

    Ein Artikel, liebe Gerda, der nicht nur berührt, sondern sehr tief eindringt!
    Vor allem bei mir jetzt…
    http://wortbehagen.de/index.php/gedichte/2016/dezember/weihnachtswuensche

    Liebe Grüße an Dich, liebe Gerda

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  9. Ingrid Spieker schreibt:

    Gerda, ich hatte deinen Beitrag inhaltlich sehr gut verstanden und mich deshalb ja gemeldet. Deinen Kommentar finde ich nun noch erdrückender, noch weniger eine Friedens- und Liebesbotschaft ausgehend vom ♡ en. Ich höre, bzw. lese keine hoffnungsvolle Zukunftsmusik aus deinen Zeilen.
    Dass neben Millionen anderer Väter auch dein Vater sein Leben für den immer wiederkehrenden Irrsinn lassen musste und du ohne ihn aufwachsen musstest, tut mir sehr leid.

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    • gkazakou schreibt:

      Hoffnungsvolle Zukunftsmusik vermisst du, liebe Ingrid? Vielleicht kommen wir uns im gegenseitigen Verstehen in einem Lied näher: „Wann wird man je verstehn, wann wird man je verstehn“. Liebe Grüße Gerda

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