112 Stufen, 110: Respekt (Helen Keller, Anne Sullivan, Samuel Gridley Howe)

Reiner hat ein „Mitmachding“ initiiert. Es geht darum, jeden Tag einen Text zu einem Wort zu posten, das sich auf der Holsteiner Treppe in Wuppertal, verteilt auf 9 Absätze befindet. Es reizt mich, da mitzumachen, allerdings eher nicht mit eigenen Textproduktionen, sondern mit literarischen Assoziationen und Gedichten anderer. Ich bin gespannt, welche Texte, Gedichte, Geschichten jedes dieser Wörter in meiner Erinnerung aufleuchten lässt. All diese Erinnerungen an Gelesenes und im Gedächtnis Aufgehobenes sollen mir einen nachklingenden Teppich weben, den ich über die Stufen lege, um noch einmal hinaufzusteigen.

Uff, bald habe ich diese Treppe erstiegen! Respekt! sage ich zu mir selbst und schlage mir auf die Schulter, wenn ich trotz allerlei Versuchungen und Ermüdungserscheinungen bis zum Ende durchhalte, was ich mir in den Kopf gesetzt und vorgenommen habe. Das sage ich auch angesichts der Leistungen anderer, natürlich. Wer mit einem Arm den Kanal von Dover durchschwimmt oder in hohem Alter die Alpen durchwandert … Respekt!

Respekt, sagte ich auf der Stufe „Rücksicht, sei die Übersetzung von Rücksicht ins Lateinische. Und doch schwingt in diesem Wort etwas ganz anderes mit: bei Rücksicht geht es um Achtsamkeit gegenüber den Schwächeren, bei Respekt um Bewunderung und Anerkennung der Leistung, die sich ein Mensch trotz aller Widrigkeiten abgerungen hat. Genau genommen ist es nicht die Leistung selbst, sondern die Willenskraft und das Durchhaltevermögen, zu denen Menschen in der Lage sind: sie nötigen mir Respekt ab. Manche sind wahre Riesen, was das anbetrifft. Gerade fällt mir Helen Keller (1880-1968) ein, die durch frühe Erkrankung blind und taubstumm wurde und nicht nur das Lesen und Schreiben erlernte, sondern sich zu einer wichtigen Stimme der Menschheit entwickelte – ihr rufe ich aus tiefstem Herzen zu: Respekt!

Das gilt ebenso für die, die sie wunderbar unterstützt haben, insbesondere ihre Eltern und ihre Lehrerin Anne Sullivan, die es verstand, durch Klopfzeichen in die Hand des Kindes dessen Seele zu erreichen, die in schlimmeres Dunkel als Kaspar Hauser gefallen war, und sie so zum zweiten Mal zum Leben zu erwecken.

undefined Helen Keller, Anne Sullivan, (1899)

Wer war Anne Sullivan (1866-1936)? Da muss ich nachlesen: Ihre Eltern, arme Landwirte, waren während der Großen Hungersnot in Irland in die Vereinigten Staaten ausgewandert. Der Vater war Alkoholiker und schlug die Tochter, die Mutter starb an Tuberkulose, als Anne acht Jahre alt war. Als sie zehn war, verschwand der Vater und sie landete in einem Waisenhaus. Mit ihr war ihr jüngerer behinderter Bruder, der im Waisenhaus an Tuberkulose starb.

Noch mehr Schlimmes? O ja! Anne war seit ihrem 3. Lebensjahr sehbehindert, und verschiedene Eingriffe machten ihren Zustand nicht besser. Ich rekapituliere: Vom Alkoholikervater geschlagen und verlassen, Mutter tot, Bruder tot, selbst schwer sehbehindert und im Waisenhaus… Was kann sich da noch Positives entwickeln? Nun: alles, wenn die nötigen Hilfestellungen sich finden lassen und der Wille da ist.

Nach vier Jahren im Waisenhaus, nun 14 Jahre alt, konnte Anne die Perkins Institution for the Blind besuchen, wo sie das Fingeralphabet für Gehörlose kennenlernte, das alle dortigen Lehrer beherrschten, um mit einer taubblinden Handarbeitslehrerin kommunizieren zu können. Dieses Alphabet hatte ein Lehrer namens Howe entwickelt, lese ich bei Wikipedia.

Wer aber war dieser Howe?

Samuel Gridley HoweDie Britannica weiß es: Samuel Gridley Howe (1801-1876) war Arzt, Aktivist gegen die Sklaverei, Gründer und Leiter der Blindenschule, auf der Anne das Fingeralphabet lernte, Gründer auch des Massachusetts School for Idiotic and Feeble-Minded Youth…. Ich lese und lese und staune: wieso ist dieser Mann mir nicht bekannt? Denn er ist wahrlich bemerkenswert – in jeder Hinsicht, aber auch hinsichtlich seiner Rolle im griechischen Befreiungskrieg gegen das Osmanische Reich (eine Beschreibung mit Bildern hier). Respekt, Respekt!

Und so, am Faden eines mir sehr gut erinnerlichen Namens (Helen Keller), lande ich bei einem Abschnitt der nordamerikanischen Geschichte, der mir tiefen Respekt einflößt und zugleich auch mein griechisches Herz höher schlagen lässt. Samuel Gridley Howe war nicht behindert, sondern begann sein Leben unter besten familiären und persönlichen Voraussetzungen. Das, was er dann daraus machte, indem er sich in vielfältigster Weise für die Verbesserung der Verhältnisse für Menschen mit sehr schlechten Voraussetzungen – Sklaven, geflüchtete Sklaven, Waisenkinder, körperlich und geistig behinderte Menschen, Gefangene, Unterdrückte… –  kämpferisch und äußerst effektiv einsetzte, das ist es, was mir auch diesem mir bisher unbekannten Mann den Ausruf „Respekt! Respekt!“ abnötigt.

Vorbilder dieser Art hätte ich als Kind gebraucht. Aber ich fand sie nicht unter meinen Lehrern. Und wenn es sie doch gegeben hat, so habe ich sie nicht erkannt. So blieb mir das Wort „Respekt“ lange verdächtig, denn es verband sich mir mit „Respektspersonen“ – also Amtsträgern wie Pfarrer, Polizisten, Lehrer, später auch Amtsärzte, Professoren, Minister, Staatsoberhäupter – und die mochte ich nicht respektieren, nur weil sie ein Amt innehatten. Um mich zu beeindrucken, reichte das bei weitem nicht – im Gegenteil. Wer auf hohem Amtsschimmel einherritt, dem begegnete ich gern wie Till Eulenspiegel…

Illustration zu Till Eulenspiegel, Schnipsel von Marie Mandarin

 

 

 

 

 

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About gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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3 Responses to 112 Stufen, 110: Respekt (Helen Keller, Anne Sullivan, Samuel Gridley Howe)

  1. Ich glaube, diese Persönlichkeiten verdienen alle Respekt. 🙏♥️🌻💦🌅 Und natürlich sind sie mir nicht unbekannt,
    nur ist das Lesen längerer Texte nicht meine Sache.

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  2. Ein wundervoller Bericht, liebe Gerda!
    Ich habe einiges erfahren, was ich nicht wußte… und mehr

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