Reiner hat ein „Mitmachding“ initiiert. Es geht darum, jeden Tag einen Text zu einem Wort zu posten, das sich auf der Holsteiner Treppe in Wuppertal, verteilt auf 9 Absätze befindet. Es reizt mich, da mitzumachen, allerdings eher nicht mit eigenen Textproduktionen, sondern mit literarischen Assoziationen und Gedichten anderer. Ich bin gespannt, welche Texte, Gedichte, Geschichten jedes dieser Wörter in meiner Erinnerung aufleuchten lässt. All diese Erinnerungen an Gelesenes und im Gedächtnis Aufgehobenes sollen mir einen nachklingenden Teppich weben, den ich über die Stufen lege, um noch einmal hinaufzusteigen.
Ich erinnere mich an allerlei kindliche Dankgebete, wenngleich das Abendgebet nicht zur Familientradition gehörte. Aber ein kleines Gebet sprach die Oma vor dem Mittagessen:
Wir danken dir, Herr,
denn du bist freundlich
und deine Gnade währet ewiglich.
Es war ein Hiatus, ein Atemholen, bevor wir über das Essen herfielen. Viel verstanden habe ich damals wohl nicht, denn dieser „freundliche Herr“, dessen „Gnade“ uns das täglich Brot bescherte, hatte sich mir nicht vorgestellt. Dagegen wusste ich, dass die Mutter und die Oma dafür gesorgt hatten, dass ich satt wurde. Ihnen aber brauchte ich nicht dankbar zu sein, denn es verstand sich von selbst, dass sie mir zu essen gaben.
Also habe ich Dankbarkeit gegen Menschen als Kind nicht gelernt. Ich bedaure das.
Es gab noch einen zweiten Spruch:
Komm, Herr Jesus,
sei unser Gast,
und segne, was du uns bescheret hast.
Den verstand ich wohl auch nicht, aber er gefiel mir, denn er spricht von Gastfreundschaft. „Sei unser Gast“ – wie schön, wenn jemand zu Gast kam und an unserem bescheidenen Tisch Platz nahm! Diese Freude und ja, auch Dankbarkeit, fühle ich bis heute.
Später zirkulierte ein anderes Gebet am Familientisch, das lautete:
Erde, die uns dies gebracht
Sonne, die es reif gemacht
Liebe Sonne, liebe Erde,
euer nie vergessen werde.
Sicher kann sich ein Kind unter Sonne und Erde mehr vorstellen, als unter dem „Herrn“, und es ist gut, sich jedesmal daran zu erinnern, welche Rolle Sonne und Erde für unser „täglich Brot“ spielen. Doch wieder fehlen die, die durch ihrer Hände Arbeit das Essen auf den Tisch bringen. Hätte der Spruch geheißen:
Mama, die du uns die Nahrungsmittel mühevoll herangeschafft hast
Oma, die du sie in genießbares Essen verwandelt hast
Liebe Oma, liebe Mama
ich will euch das nie vergessen
…ich glaube, es hätte mir gut getan. Dankbarkeit ist ein schönes Gefühl, und es ist gut, es in sich zu entwickeln. Es wärmt von Innen. Da ich es nicht gelernt habe, sondern die Arbeit der anderen als „gegeben“ hinnahm, liegt die Dankesflamme unter Asche, und ich muss sie jedesmal bewusst anblasen und neu in mir entfachen, damit mein Herz erglüht und meine Augen in Dankbarkeit aufleuchten angesichts all der Wohltaten, mit denen mich die Mitmenschen (und die Erde, der Himmel, das ganze Weltall) überhäuft haben.
Einer, der viel von Dankbarkeit verstand und auch in die richtigen Worte fassen konnte, war Friedrich Rückert (1788–1866), den ich gerade wiederentdeckt habe.
Die Dankbarkeit ergeht nicht in des Handelns Schranken
Die Dankbarkeit ergeht nicht in des Handelns Schranken,
Die Dankbarkeit besteht, das Wort sagts, im Gedanken.
Mein Denken dankt, es ist mein Dank euch zugedacht,
Wenn auch ihn weder Wort noch Werk bemerklich macht.
Undankbar waͤr’ ich sonst in einem wicht’gen Falle;
Denn wem am meisten Dank ich schulde, todt sind alle.
Mit Worten kann ich mich bei ihnen nicht bedanken,
Doch sie begnuͤgen sich mit dankenden Gedanken.
(aus „Die Weisheit des Brahmanen“ (1836-39), gefunden bei https://kalliope.org/da/work/rueckert/1836b)
Besser wärs natürlich schon, Dankbarkeit nicht in später Reue, sondern sogleich zu empfinden und seinen Mitmenschen freudig mitzuteilen.


Spannender Beitrag … das 2. Tischgebet kenne ich auch aus meiner Kindheit 🙂
LikeGefällt 1 Person
Ich mags am liebsten.
LikeGefällt 1 Person
Wenn die Menschen im Gebet dem HERRN danken, sagen sie doch damit auch:
Wenn wir Dir danken und tun, was Deinem Willen entspricht, tun wir es in jedem Falle zugleich in Liebe zu all Seinen Geschöpfen
und danken dann zugleich den Menschen, die uns das Essen so schön und liebevoll zubereiten, mit fast nichts. 🙏🧡💐
LikeLike
Du KANNST es so empfinden. Aber im Text steht es nicht.
LikeLike
ein ganz und gar wundervoller arikel, liebe gerda❣️
LikeLike