Reiner hat ein „Mitmachding“ initiiert. Es geht darum, jeden Tag einen Text zu einem Wort zu posten, das sich auf der Holsteiner Treppe in Wuppertal, verteilt auf 9 Absätze befindet. Es reizt mich, da mitzumachen, allerdings eher nicht mit eigenen Textproduktionen, sondern mit literarischen Assoziationen und Gedichten anderer. Ich bin gespannt, welche Texte, Gedichte, Geschichten jedes dieser Wörter in meiner Erinnerung aufleuchten lässt. All diese Erinnerungen an Gelesenes und im Gedächtnis Aufgehobenes sollen mir einen nachklingenden Teppich weben, den ich über die Stufen lege, um noch einmal hinaufzusteigen.
Delacroix, der Barmherzige Samariter
Gestern erhielt ich eine Mail, die mir das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter nicht nur in Erinnerung rief, sondern auch auslegte. Die Mail kam von einer hier mitlesenden lieben Freundin, die des Altgriechischen ebenso kundig ist wie des Hebräischen. Ihre Erläuterungen sind für Studierende verfasst, und da wir alle Studierende sind, darf ich daraus Gedanken und Zitate entnehmen:
Du erinnerst dich sicher an das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Nein, nicht wirklich? Also: Das Gleichnis steht im griechisch verfassten Lukas-Evangelium. Jesus erzählt es, als er von einem Schriftgelehrten (eigentlich: Gesetzeslehrer, νομικός) gefragt wird, was zum Erwerb des ewigen Lebens zu tun sei. Jesus fragt ihn nach den diesbezüglichen Aussagen der Tora, und der Gesetzeslehrer zitiert drei Stellen, darunter auch
„Du sollst dich nicht rächen, auch nicht Zorn halten gegen die Kinder deines Volkes. Liebe deinen Nächsten, wie du dich selbst liebst. Ich, der Ewige.“
Auf Jesu Aufforderung, so zu handeln, fragt ihn der Schriftgelehrte:
Wer ist mein Nächster?
Und nun erzählt Jesus das Gleichnis von einem Mann, der überfallen wurde und hilflos und blutend am Straßenrand liegt. Ein Priester und ein Levit gehen vorbei und lassen ihn liegen, während ein von den Juden verachteter Samariter seine Wunden versorgt, ihn auf sein eigenes Reittier hebt, ihn zu einer Herberge bringt und für seine weitere Pflege bezahlt.
„Wer von diesen Dreien scheint dir dem unter die Räuber Gefallenen der Nächste geworden zu sein?“ fragt Jesus abschließend den fragenden Gesetzeslehrer.
Das Ganze wird besser verständlich, wenn man weiß, dass es für einen gesetzestreuen Juden überhaupt keine Frage ist, wer mein Nächster sei. Mein Nächster ist einer, der zu meinem Volk gehört. Auch sollte man wissen, dass die religiösen Reinheitsvorschriften es den Priestern und Leviten untersagen, sich mit Blut zu verunreinigen oder einen Toten anzufassen (4.Mose 19,11). Allerdings folgen auch die von den Juden verachteten Samariter der Tora und haben also dieselben Gesetze zu beachten.
Dieser aber beachtet die Gesetze nicht, denn „er wurde von Mitleid ergriffen“. ἐσπλαγχνίσθη. So heißt das Wort, das da im Urtext steht. Σπλαγχνα – das sind die Eingeweide. Und auch heute wird Mitleiden im Griechischen so verstanden: als etwas, das dich bis in die Eingeweide hinein erschüttert und zum Handeln zwingt. So wurde auch der Samariter vom Mitleid überwältigt und vergaß die Reinheitsgesetze beim Anblick des Schwerverletzten. Er MUSSTE helfen, da er sonst selbst gelitten hätte.
Wie das? Leidet man, wenn man nicht hilft? Ich glaube, jeder hat es schon mal erlebt: dass er einen schwer verletzten Menschen oder ein überfahrenes Tier sah und es ihn bis in den Bauch hinein erschütterte. Sogar bei einer leichten Verletzung, etwa wenn ein Kind fällt und das Knie blutet, stellen sich die Nackenhaare auf und man meint, den Schmerz selbst zu fühlen. Die normale Reaktion ist da: helfen! Wegsehen oder Wegrennen ist eine andere mögliche Reaktion, aber sie ist nicht sehr hilfreich, denn wenn es dich einmal erwischt hat und du hast die Wunden des anderen gesehen, wird dein Körper mit-leiden, sofern du nicht hilfst und die Wunden nicht versorgst.
Jesus fragt abschließend den Rechtsgelehrten: „Wer von diesen Dreien scheint dir dem unter die Räuber Gefallenen der Nächste geworden zu sein?“
Das ist eine bemerkenswerte Formulierung, die bei Übersetzungen oft verloren geht. Dem Überfallenen ist der Helfer ein Nächster geworden.
Die im Leiden und Mit-Leiden Verbundenen sind sich Nächste geworden. Oder noch genauer: dem Leidenden ist im Mitleidenden ein Nächster erwachsen.
van Gogh, gemalt im Jahre seines Todes 1890
Das ist eine sehr gute Darstellung.
Und die Gemälde sind auch eindrucksvoll. Das zweite – von Van Gogh – spricht mich noch mehr an als das erste.
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Das möchte ich gern bei mir anzeigen, Gerda.
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Interessante Gedanken zum Thema Mitleid.
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Der Van Gogh ist so rührend und wundervoll
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Doch nicht das Mitleid als solches half dem unter die Räuber gefallenen, sondern die tätige Hilfe. Das Mit – Leiden kann also nur der erste Schritt sein, der einem zu hoffentlich überlegtem und richtigem Tun bringt. Hilfe ohne Mit – Leiden wird aber immer eingeschränkt sein, so wie hier durch Regeln und Gesetze und darauf die Sorge vor Ausgrenzung oder andere Limitierungen.
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