Reiner hat ein „Mitmachding“ initiiert. Es geht darum, jeden Tag einen Text zu einem Wort zu posten, das sich auf der Holsteiner Treppe in Wuppertal, verteilt auf 9 Absätze befindet. Es reizt mich, da mitzumachen, allerdings eher nicht mit eigenen Textproduktionen, sondern mit literarischen Assoziationen und Gedichten anderer. Ich bin gespannt, welche Texte, Gedichte, Geschichten jedes dieser Wörter in meiner Erinnerung aufleuchten lässt. All diese Erinnerungen an Gelesenes und im Gedächtnis Aufgehobenes sollen mir einen nachklingenden Teppich weben, den ich über die Stufen lege, um noch einmal hinaufzusteigen.
Unweigerlich fällt mir bei „Rache“ als erstes die große Ballade „Die Füße im Feuer“ von Conrad Ferdinand Meyer (1825-1898) und darin die letzte Halbzeile: „Mein ist die Rache, redet Gott“ ein. Gegen den fürchterlichen Inhalt der Ballade schützten wir uns als Pennäler mit dem verulkenden Reim „Die Füße im Feuer von Conrad Ferdinand Meyer“. Doch ganz gelang das nicht. Die schauerliche Schilderung der Folterung einer Frau und der Gewissensprüfung ihres Mannes konnte nicht vollkommen an unseren kindlichen Gemütern abprallen – jedenfalls nicht an meinem. Und so blieb mir bis heute fast jede Zeile im Gedächtnis haften.
Conrad Ferdinand Meyer
Die Füße im Feuer
Wild zuckt der Blitz. In fahlem Lichte steht ein Turm.
Der Donner rollt. Ein Reiter kämpft mit seinem Roß,
Springt ab und pocht ans Tor und lärmt. Sein Mantel saust
Im Wind. Er hält den scheuen Fuchs am Zügel fest.
Ein schmales Gitterfenster schimmert goldenhell
Und knarrend öffnet jetzt das Tor ein Edelmann…
»Ich bin ein Knecht des Königs, als Kurier geschickt
Nach Nîmes. Herbergt mich! Ihr kennt des Königs Rock!«
»Es stürmt. Mein Gast bist du. Dein Kleid, was kümmertʼs mich?
Tritt ein und wärme dich! Ich sorge für dein Tier!«
Der Reiter tritt in einen dunkeln Ahnensaal,
Von eines weiten Herdes Feuer schwach erhellt,
Und je nach seines Flackerns launenhaftem Licht
Droht hier ein Hugenott im Harnisch, dort ein Weib,
Ein stolzes Edelweib aus braunem Ahnenbild…
Der Reiter wirft sich in den Sessel vor dem Herd
Und starrt in den lebendgen Brand. Er brütet, gafft…
Leis sträubt sich ihm das Haar. Er kennt den Herd, den Saal…
Die Flamme zischt. Zwei Füße zucken in der Glut.
Den Abendtisch bestellt die greise Schaffnerin
Mit Linnen blendend weiß. Das Edelmägdlein hilft.
Ein Knabe trug den Krug mit Wein. Der Kinder Blick
Hangt schreckensstarr am Gast und hangtam Herd entsetzt …
Die Flamme zischt. Zwei Füße zucken in der Glut.
»Verdammt! Dasselbe Wappen! Dieser selbe Saal!
Drei Jahre sindʼs … Auf einer Hugenottenjagd…
Ein fein, halsstarrig Weib … ›Wo steckt der Junker? Sprich!‹
Sie schweigt. ›Bekenn!‹ Sie schweigt. ›Gib ihn heraus!‹ Sie schweigt.
Ich werde wild. Der Stolz! Ich zerre das Geschöpf …
Die nackten Füße pack ich ihr und strecke sie
Tief mitten in die Glut … ›Gib ihn heraus!‹ … Sie schweigt …
Sie windet sich … Sahst du das Wappen nicht am Tor?
Wer hieß dich hier zu Gaste gehen, dummer Narr?
Hat er nur einen Tropfen Bluts, erwürgt er dich.«
Eintritt der Edelmann. »Du träumst! Zu Tische, Gast …«
Da sitzen sie. Die drei in ihrer schwarzen Tracht
Und er. Doch keins der Kinder spricht das Tischgebet.
Ihn starren sie mit aufgerißnen Augen an –
Den Becher füllt und übergießt er, stürzt den Trunk,
Springt auf: «Herr, gebet jetzt mir meine Lagerstatt!
Müd bin ich wie ein Hund!» Ein Diener leuchtet ihm,
Doch auf der Schwelle wirft er einen Blick zurück
Und sieht den Knaben flüstern in des Vaters Ohr…
Dem Diener folgt er taumelnd in das Turmgemach.
Fest riegelt er die Tür. Er prüft Pistol und Schwert.
Gell pfeift der Sturm. Die Diele bebt. Die Decke stöhnt.
Die Treppe kracht … Dröhnt hier ein Tritt? … Schleicht dort ein Schritt?…
Ihn täuscht das Ohr. Vorüberwandelt Mitternacht.
Auf seinen Lidern lastet Blei und schlummernd sinkt
Er auf das Lager. Draußen plätschert Regenflut.
Er träumt. »Gesteh!« Sie schweigt. »Gib ihn heraus!« Sie schweigt.
Er zerrt das Weib. Zwei Füße zucken in der Glut.
Aufsprüht und zischt ein Feuermeer, das ihn verschlingt …
»Erwach! Du solltest längst von hinnen sein! Es tagt!«
Durch die Tapetentür in das Gemach gelangt,
Vor seinem Lager steht des Schlosses Herr – ergraut,
Dem gestern dunkelbraun sich noch gekraust das Haar.
Sie reiten durch den Wald. Kein Lüftchen regt sich heut.
Zersplittert liegen Ästetrümmer quer im Pfad.
Die frühsten Vöglein zwitschern, halb im Traume noch.
Friedselʼge Wolken schwimmen durch die klare Luft,
Als kehrten Engel heim von einer nächtgen Wacht.
Die dunkeln Schollen atmen kräftgen Erdgeruch.
Die Ebne öffnet sich. Im Felde geht ein Pflug.
Der Reiter lauert aus den Augenwinkeln: »Herr,
Ihr seid ein kluger Mann und voll Besonnenheit
Und wißt, daß ich dem größten König eigen bin.
Lebt wohl. Auf Nimmerwiedersehn!« Der andre spricht:
»Du sagstʼs! Dem größten König eigen! Heute ward
Sein Dienst mir schwer … Gemordet hast du teuflisch mir
Mein Weib! Und lebst! … Mein ist die Rache, redet Gott.“
Erstmals veröffentlicht wurde die Ballade 1882, aber bereits 1864 ist eine Erstfassung mit dem Titel „Der Hugenot“ erschienen. Ob der Autor eine autobiographisch bedeutsame Beziehung zu den Hugenotten Frankreichs hatte, weiß ich nicht. Die komplizierten deutsch-französischen Beziehungen aber interessierten (und belasteten) den Schweizer Autor ein Leben lang.
Doch darum geht es nur vordergründig. Die Kernaussage des Gedichts ist die Frage nach der Berechtigung der Rache. Für den französischen Edelmann ist die Sachlage klar:
Wer hieß dich hier zu Gaste gehen, dummer Narr? /Hat er nur einen Tropfen Bluts, erwürgt er dich.
Dass er die Nacht überlebt, meint er der „Klugheit“ (ergo: Feigheit, Angst vor den Folgen) des Hugenotten zu verdanken:
Der Reiter lauert aus den Augenwinkeln: »Herr, / Ihr seid ein kluger Mann und voll Besonnenheit / Und wißt, daß ich dem größten König eigen bin.“
Für den Hugenotten aber ist der Verzicht auf Rache die schwerste Prüfung seines Glaubens und verlangt höchste Tapferkeit, die er nur durch seine Glaubenstiefe erreichen kann.
„Mein ist die Rache, redet Gott“, von Apostel Paulus im Römerbrief zitierter Satz aus dem Alten Testament, wird kontrovers ausgelegt. Unter Stufe 62 (Kränkung) erwähnte ich, dass der tiefgläubige Theologe und Verschwörer Dieter Bonhoeffer den Tyrannenmord rechtfertigte. Für ihn war klar: auch der Christ kann, er muss sogar tätig werden, wenn der Antichrist regiert. Der Schweizer Theologe Karl Barth (wichtigster Exeget des Römerbriefes, Mitbegründer der Bekennenden Kirche) hingegen wehrt sich zwar gegen die Forderung der offiziellen Kirche, sich der politischen Stellungnahme zu enthalten, und verteidigt den Kampf der Bekennenden Christen gegen eine „Regierung von Lügnern und Wortbrüchigen, Mördern und Brandstiftern …eine Regierung, die sich selbst an die Stelle Gottes setzen, die die Gewissen binden, die Kirche unterdrücken und sich selbst zur Kirche des Antichrist machen“ will, und schließt, dass Christen „dem Gebet entsprechend, auch handeln müssen“, (1938, zit. nach Andreas Pangritz), hatte aber für die Ambitionen der Attentäter, Deutschland vor der Katastrophe zu retten und neu zu gestalten, keine Sympathie. Für ihn war die bedingungslose Kapitulation Deutschlands der richtige Weg, um für die begangenen Verbrechen zu büßen.
„Mein ist die Rache, redet Gott“ ist damit ein Satz, der das Weltgeschehen zwar nicht der tätigen Gestaltung durch den Menschen entzieht, wohl aber die „Rache“, also Strafe und Buße in welcher Gestalt auch immer, Gott überantwortet. Der Christ darf auch angesichts der schlimmten Verbrechen nicht zum Rächer werden.


Hugenotten 🙂
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Danke! Hugonotten kam mir schon beim Schreiben merkwürdig vor. Ich verbessere es gleich.
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E könnte ja auf griechisch andere Vokale haben 😉
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Ich habe nie irgendwo und von irgendwem gehört, daß Rache friedvoll verlaufen wäre.
Sie ist immer Kampf, Mord und Totschlag und es folgt erneut Rache von der anderen Seite.
Ich glaube, daß in Rache auch Bosheit stecken könnte
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Natürlich ist Rache nicht friedfertig, liebe Bruni. Aber sie führt bei denen, die sie üben, zu einem Gefühl der ausgleichenden Gerechtigkeit und beruhigen sie insofern. Du hast auch in dem Punkt recht, dass Rache neue Rache nach sich zieht. Insofern ist es gut, dass zB die Blutrache heute nur noch in wenigen Gesellschaften gilt. Aber es ist nicht leicht, sich der Aufforderung zu widersetzen, Gleiches mit Gleichem, Auge mit Auge zu vergelten.
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und doch gibt es sie immer noch, diese Blutrache
und neues Leid kommt über die Familien… immer wieder und ich denke, daß es vorwiegend die Frauen sind, die darunter am meisten leiden…
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Ich glaube nicht, dass die Männer weniger drunter leiden. Sie müssen ja die Blutrache vollziehen, ob sie wollen oder nicht. Ich habe kürzlich einen großartigen Film über eine Erzählung von Camus gesehen, da will der Algerier, der jemand vom anderen Clan umgebracht hat, den Franzosen ausgeliefert werden, obwohl das bedeutet, dass er hingerichtet wird. Für ihn ist das der einzige Weg, seinen kleinen Bruder von der Verpflichtung zu befreien, wiederum zum Mörder zu werden.
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