Reiner hat ein „Mitmachding“ initiiert. Es geht darum, jeden Tag einen Text zu einem Wort zu posten, das sich auf der Holsteiner Treppe in Wuppertal, verteilt auf 9 Absätze befindet. Es reizt mich, da mitzumachen, allerdings eher nicht mit eigenen Textproduktionen, sondern mit literarischen Assoziationen und Gedichten anderer. Ich bin gespannt, welche Texte, Gedichte, Geschichten jedes dieser Wörter in meiner Erinnerung aufleuchten lässt. All diese Erinnerungen an Gelesenes und im Gedächtnis Aufgehobenes sollen mir einen nachklingenden Teppich weben, den ich über die Stufen lege, um noch einmal hinaufzusteigen.
Schon wieder ein „Klassiker“, schon wieder Schiller. Das ist kein Zufall, denn das, was ich in meiner Schulzeit aufnahm, entstammt weitgehend einem Bildungskanon, in dem die „Klassiker“ die führende Rolle spielten. Und da wiederum stand die große Frage im Mittelpunkt: Ist das als ideal Erkannte – das Wahre, Schöne, Gute – in die Wirklichkeit zu bringen? Es müsse doch möglich sein, die menschlichen Verhältnisse dem Idealen stets etwas mehr anzunähern?
Nein! sagt Schiller. Die Welt ist schlecht, die Bosheit siegt. Das war so und das wird so sein. In seinen historischen Dramen gibt es keinen Sieg des Guten, und auch in seiner Gegenwart erlebte er die Perversion der Ideale der Aufklärung und der Französischen Revolution erst im „Horreur“ des Robespierre, dann in der Machtanmaßung und den Kriegen Napoleons.
Dennoch!
„Das Schöne, das Wahre“ IST!
Auch wenn wir Menschen es nicht enträtseln, geschweige denn erreichen können, so sollen wir uns doch den Glauben daran erhalten. Wer hofft, es im Außen zu finden, ist einem Wahn erlegen. In unserem Innern aber ist es als Idee lebendig, und aus diesem unserem Inneren bringen wir es immer neu hervor.
Edle Seele, entreiß dich dem Wahn
Und den himmlischen Glauben bewahre!
Was kein Ohr vernahm, was die Augen nicht sahn,
Es ist dennoch, das Schöne, das Wahre!
Es ist nicht draußen, da sucht es der Tor,
Es ist in dir, du bringst es ewig hervor.
Dies ist die letzte Strophe des Gedichts „Die Worte des Wahns“. Geschrieben hat Schiller es im letzten Jahr des 18. Jahrhnderts. Es ist zugleich Bestätigung des Ideals und Abschied von der Illusion der Aufklärung, dass die Menschheit eine ideale gesellschaftliche Ordnung zu schaffen in der Lage wäre.
Friedrich Schiller
Die Worte des Wahns
Drei Worte hört man bedeutungschwer
Im Munde der Guten und Besten,
Sie schallen vergeblich, ihr Klang ist leer,
Sie können nicht helfen und trösten.
Verscherzt ist dem Menschen des Lebens Frucht,
So lang er die Schatten zu haschen sucht.
So lang er glaubt an die Goldene Zeit,
Wo das Rechte, das Gute wird siegen,
Das Rechte, das Gute führt ewig Streit,
Nie wird der Feind ihm erliegen,
Und erstickst du ihn nicht in den Lüften frei,
Stets wächst ihm die Kraft auf der Erde neu.
So lang er glaubt, daß das buhlende Glück
Sich dem Edeln vereinigen werde,
Dem Schlechten folgt es mit Liebesblick,
Nicht dem Guten gehöret die Erde.
Er ist ein Fremdling, er wandert aus,
Und suchet ein unvergänglich Haus.
So lang er glaubt, daß dem irdschen Verstand
Die Wahrheit je wird erscheinen,
Ihren Schleier hebt keine sterbliche Hand,
Wir können nur raten und meinen.
Du kerkerst den Geist in ein tönend Wort,
Doch der freie wandelt im Sturme fort.
Drum edle Seele, entreiß dich dem Wahn,
Und den himmlischen Glauben bewahre.
Was kein Ohr vernahm, was die Augen nicht sahn,
Es ist dennoch, das Schöne, das Wahre!
Es ist nicht draußen, da sucht es der Tor,
Es ist in dir, du bringst es ewig hervor.
Die Schnipsel des Legebilds (oben/unten um 180 Grad gedreht) stammen von Marie Mandarin.

Großartig!
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„Der Wahn ist kurz. Die Reu ist lang!“
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Ja, auch das ist von Schiller, aus der „Glocke“. die fiel mir auch ein, aber ich hatte sie schon mal.
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und immer wenn ich denke, einen Dichter zu kennen, da zeigst Du mir Worte, denen ich nie begegnete und sie sind doch so gut…
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