112 Stufen, 70: Enttäuschung (Luise Büchner)

Reiner hat ein „Mitmachding“ initiiert. Es geht darum, jeden Tag einen Text zu einem Wort zu posten, das sich auf der Holsteiner Treppe in Wuppertal, verteilt auf 9 Absätze befindet. Es reizt mich, da mitzumachen, allerdings eher nicht mit eigenen Textproduktionen, sondern mit literarischen Assoziationen und Gedichten anderer. Ich bin gespannt, welche Texte, Gedichte, Geschichten jedes dieser Wörter in meiner Erinnerung aufleuchten lässt. All diese Erinnerungen an Gelesenes und im Gedächtnis Aufgehobenes sollen mir einen nachklingenden Teppich weben, den ich über die Stufen lege, um noch einmal hinaufzusteigen.

Luise Büchner (1821-1877), eine Schwester der berühmten Büchner-Brüder Georg, Wilhelm, Ludwig und Alexander, ist vor allem als Frauenrechtlerin und Förderin der Mädchen- und Frauenbildung in die Geschichte eingegangen. Dass sie auch schriftstellerte und dichtete, versteht sich fast von selbst. Denn wie sonst hätten die gebildeten Damen des 19. Jahrhunderts ihre Gedanken und Gefühle zum Ausdruck bringen sollen? Und gebildet war Luise, die sich ein umfangreiches Wissen in Selbstunterricht aneignete. Wegen einer schweren Rückenverkrümmung konnte sie auf keine glückliche Ehebeziehung hoffen und ging wohl auch deshalb entschlossen den Weg, anderen Frauen und Mädchen Alternativen zum Leben als Ehefrau und Mutter aufzuzeigen.

Luises Dichtung reicht bei weitem nicht an die ihres Bruders Georg heran, aber ihr Lebenwerk, das mit dem Frauenberufsbildungswerk der Großherzogin Alice von Hessen eng verbunden war (Alice-Hospital Darmstadt, Alice-Verein für Frauenbildung und -Erwerb, Alice-Basar, Alice-Berufsfachschule, Alice-Lyceum), ist bedeutend und wird an ihrem Geburts- und Lebensort Darmstadt bis heute geehrt. Über ihre persönlichen Lebens- und Liebesenttäuschungen weiß ich nichts, doch spricht ihr Gedicht „Höchstes Leid“, das 1862 in der Sammlung „Frauenherz“ erschien, eine deutliche Sprache.

Luise Büchner

Höchstes Leid

Hart ists an dem Grab zu stehn

Derer die du heiß geliebet,

Hart auch, wie am Fels der Zeit

Traum um Traum am Nichts zerstiebet.

 

Bittrer als des Todes Raub

Und was kalt die Zeit entwendet,

Ιst’s, wenn du dein best’ Gefühl

An Unwürdige verschwendet.

 

Wie ein Bettler stehst du da,

Der alles hingegeben

Dem nichts blieb von seinem Schatz,

Als das nackte arme Leben.

 

Wie von roher Hand gestürzt,

liegt ein Götterbild im Staube,

Also ist ein Trümmerhauf’

Deines Herzens schönster Glaube!

 

Neue Rosen bringt die Zeit,

Frisches Grün das Grab umkleidet,

Aber öd bleibt dieser Platz

Und kein Thau drauf niedergleitet.

 

 

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About gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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