Reiner hat ein „Mitmachding“ initiiert. Es geht darum, jeden Tag einen Text zu einem Wort zu posten, das sich auf der Holsteiner Treppe in Wuppertal, verteilt auf 9 Absätze befindet. Es reizt mich, da mitzumachen, allerdings eher nicht mit eigenen Textproduktionen, sondern mit literarischen Assoziationen und Gedichten anderer. Ich bin gespannt, welche Texte, Gedichte, Geschichten jedes dieser Wörter in meiner Erinnerung aufleuchten lässt. All diese Erinnerungen an Gelesenes und im Gedächtnis Aufgehobenes sollen mir einen nachklingenden Teppich weben, den ich über die Stufen lege, um noch einmal hinaufzusteigen.
Zusammenkommen? Automatisch fallen mir die drei Hexen aus Shakespeares Macbeth ein – und damit zugleich auch Fontanes „Die Brück‘ am Tay“ mit dem hämmernden Resümee:
Tand Tand ist das Gebilde von Menschenhand
Ihr kennt diese Ballade sicher alle, und auch die Entstehungsgeschichte ist hier im Blog und anderswo schon erzählt worden. Christiane hat sie in ihrer Balladenwoche von 2017 besprochen (hier). Ich erspare mir daher weitere Ausführungen und erinnere nur noch mal an die ersten Verse:
„Wann treffen wir drei wieder zusamm?“
„Um die siebente Stund, am Brückendamm.“
„Am Mittelpfeiler.“
„Ich lösche die Flamm.“
„Ich mit.“
„Ich komme vom Norden her.“
„Und ich vom Süden.“
„Und ich vom Meer.“
„Hei, das gibt einen Ringelreihn,
Und die Brücke muß in den Grund hinein.“
„Und der Zug, der in die Brücke tritt
Um die siebente Stund?“
„Ei, der muß mit“
„Muß mit.“
„Tand, Tand
Ist das Gebilde von Menschenhand!“
Zusammentreffen ist etwas anderes als Zufall – im Griechischen σύμπτωση („Zusammenfall“) – insofern, als beim Zusammentreffen eine Absicht unterstellt wird, die dem Zufall fehlt. Und doch ist dieser Unterschied bei genauerem Hinsehen nicht wirklich aufrechtzuerhalten. Denn ist es nicht oft genug das unkontrollierbare „Zusammenkommen“ von Umständen, das den Gang der Geschichte bestimmt?
Gerade lese ich „Les miserables“ (die Elenden) von Victor Hugo und dort seine Beschreibung der Schlacht von Waterloo. Der Ausgang war für Napoleon bekanntlich katastrophal. Doch warum fiel ihm der Sieg nicht zu? Wegen des Zusammentreffens verschiedener kleiner, unbedeutender Umstände – beginnend mit dem für die Jahreszeit ungewöhnlichen Regen über das Vorhandensein einer zugewachsenen Mauer und einen nicht beachteten Hohlweg bis hin zur Wegweisung der Blücherschen Heers durch einen Hirtenknaben. War’s der „Zufall“, die „Vorsehung“ oder der „Herrgott“ persönlich, der die Dinge und Menschen so und nicht anders zusammentreffen ließ? Hugo kann sich nicht entschließen, wie er dieses Phänomen benennen soll. Er spricht auch vom „Gott gesandten Zufall“ oder auch vom „Odem Gottes“ (S.299 bzw 298 meiner Ausgabe). Die Niederlage Napoleons, so Hugo, kann man zwar als eine Reihe von Begebenheiten – Begegnungen, Täuschungen, Zufällen – beschreiben, wie es die Geschichtswissenschaft tut, aber seine Niederlage lasse sich so nicht erklären, denn sie habe einen anderen Grund:
„War es möglich, dass Napoleon die Schlacht gewann? Wir antworten: Nein! Nicht weil er Wellington oder Blücher, sondern weil er Gott zum Feinde hatte. – Ein Sieg Bonapartes bei Waterloo hätte zu einer Entwicklung und Umwälzung, die das neunzehnte Jahrhundert bringen sollte, nicht gepasst. Es war Zeit, dass der Ungeheure fiel. Er wog zu schwer in der Waagschale der Weltgeschichte… Der höchste Richter musste Abhilfe schaffen. Wahrscheinlich beschwerten sich die Mächte, von denen die moralische Ordnung abhängt, über das viele Blutvergießen. Auf diese Anklage hin wurde Napoleons Sturz beschlossen. Er fiel, weil er dem Herrgott im Wege war.“ (S. 287-8)
Diese Vorstellung, dass unsichtbare Mächte – seien es Hexen wie in der Ballade von der „Brück am Tay“, seien es geistige Hüter der Weltentwicklung oder der Herrgott höchstpersönlich – das Zusammenkommen von Menschen und Ereignissen arrangieren, ist offenbar weit verbreitet, und auch ein Aufklärer wie Hugo mag nicht an das blinde Walten des Zufalls glauben.
Es ist eben eine menschliche Eigenschaft, im Chaos Sinn stiften zu wollen, und was vor Ort oft nicht gelingen will, gelingt doch fast immer post hoc (nachdem etwas eingetreten ist). Da sagt man dann: „Es musste so kommen!“ Und vielleicht ist es ja auch so.
Beide Bilder sind mit Schnittresten gelegt, die mir Jürgen Küster einst schenkte.
