112 Stufen, 48: Anziehung (Annette von Droste-Hülshoff)

Reiner hat ein „Mitmachding“ initiiert. Es geht darum, jeden Tag einen Text zu einem Wort zu posten, das sich auf der Holsteiner Treppe in Wuppertal, verteilt auf 9 Absätze befindet. Es reizt mich, da mitzumachen, allerdings eher nicht mit eigenen Textproduktionen, sondern mit literarischen Assoziationen und Gedichten anderer. Ich bin gespannt, welche Texte, Gedichte, Geschichten jedes dieser Wörter in meiner Erinnerung aufleuchten lässt. All diese Erinnerungen an Gelesenes und im Gedächtnis Aufgehobenes sollen mir einen nachklingenden Teppich weben, den ich über die Stufen lege, um noch einmal hinaufzusteigen.

Vorhin zitierte ich Anais Nin: „Die stummen Frauen der Vergangenheit, die sich wortlos hinter ihren unausgesprochenen Gefühlen verbergen, und die Frauen von heute, die ganz in der Aktion aufgehen und den Mann kopieren. Und dazwischen: ich.“  

Waren sie aber alle so wortlos, die Frauen von damals? O nein. Es gab kräftige Stimmen, die in schwachen Körpern und unter schwierigen Familien- und Zeitverhältnissen lebten. Das Handeln war ihnen versagt, nicht aber die Stimme – zumindest nicht vollkommen.

Annette von Drosten-Hülshoff (1797-1848) war eine von diesen Stimmen, die sich beharrlich und gegen Widerstände zu Worte meldete und sich schließlich auch Gehör verschaffte. Berühmt würde sie zu Lebzeiten nicht werden, das war ihr klar, und es kümmerte sie wenig. In „hundert Jahren“ aber, da war sie sich sicher, würde man ihre Dichtung noch lesen.

Hundert Jahre nach ihr lebte Anais Nin, die ohne diese klaren Stimmen früherer Frauen niemals hätte hinaufgelangen können zu ihrer Form der Selbstverwirklichung, in der sie sich distanziert von den Frauen von heute, die ganz in der Aktion aufgehen und den Mann kopieren; und Anais, in den zwanziger Jahren mit ihrer radikalen sexuellen Befreiung, ist wiederum eine Stufe, die uns im folgenden Jahrhundert zu der Stufe weitertrug, auf der wir Heutigen immer noch mit denselben Dämonen um ein selbstverwirklichtes Leben ringen.

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An ***
Kein Wort, und wär’ es scharf wie Stahles Klinge,
Soll trennen, was in tausend Fäden Eins,
So mächtig kein Gedanke, daß er dringe
Vergällend in den Becher reinen Weins;
Das Leben ist so kurz, das Glück so selten,
So großes Kleinod, einmal sein statt gelten!


Hat das Geschick uns, wie in frevlem Witze,
Auf feindlich starre Pole gleich erhöht,
So wisse, dort, dort auf der Scheidung Spitze
Herrscht, König über Alle, der Magnet,
Nicht frägt er ob ihn Fels und Strom gefährde,
Ein Strahl fährt mitten er durchs Herz der Erde.


Blick’ in mein Auge – ist es nicht das deine,
Ist nicht mein Zürnen selber deinem gleich?
Du lächelst – und dein Lächeln ist das meine,
An gleicher Lust und gleichen Sinnen reich;
Worüber alle Lippen freundlich scherzen,
Wir fühlen heilger es im eignen Herzen.


Pollux und Castor, – wechselnd Glühn und Bleichen,
Des Einen Licht geraubt dem Andern nur,
Und doch der allerfrömmsten Treue Zeichen. –
So reiche mir die Hand, mein Dioskur!
Und mag erneuern sich die holde Mythe,
Wo überm Helm die Zwillingsflamme glühte.

*** Levin Schücking (1814-1883) behauptete, er sei der Addressat dieses Gedichts gewesen, aber das wird heute mit guten Gründen bezweifelt (siehe hier). Es ist mir, ehrlich gesagt, ziemlich wurscht. Denn es geht im Gedicht ja viel grundsätzlicher um die „Anziehung“ zwischen Mann und Frau. Und die hat diese zarte, kleinwüchsige, durch Zeitumstände, Familientradition und Krankheiten eingeschränkte, aber höchst mutige, klarsichtige Dichterin in überpersönlicher Weise angesprochen: Im Dualismus der Geschlechter lebend, gesellschaftlich auf zwei „starre Pole“ verteilt, gibt es doch eine unwiderstehliche Macht, „König über alle“, „Magnet“, der die Scheidung aufhebt und das Widerstrebende zusammenzwingt. Wenn der „Strahl mitten durchs Herz der Erde fährt“, dann wird der eine zum Zwilling und Spiegelbild des anderen, und anstatt (als Frau oder Mann) zu „gelten“, dürfen wir ganz „sein“. 

Das für mich schönste ihrer Gedichte ist „am Thurme„. Da ist die ganze Sehnsucht nach einer nicht mehr auf die männlich-weiblichen Pole verteilten, sondern in einem freien wilden Sein zusammenklingenden menschlichen Seelenanteile ganz wunderbar zum Ausdruck gebracht worden.

Am Turme

Ich steh’ auf hohem Balkone am Turm,
Umstrichen vom schreienden Stare,
Und laß’ gleich einer Mänade den Sturm
Mir wühlen im flatternden Haare;
O wilder Geselle, o toller Fant,
Ich möchte dich kräftig umschlingen,
Und, Sehne an Sehne, zwei Schritte vom Rand
Auf Tod und Leben dann ringen!

Und drunten seh’ ich am Strand, so frisch
Wie spielende Doggen, die Wellen
Sich tummeln rings mit Geklaff und Gezisch,
Und glänzende Flocken schnellen.
O, springen möcht’ ich hinein alsbald,
Recht in die tobende Meute,
Und jagen durch den korallenen Wald
Das Walroß, die lustige Beute!

Und drüben seh’ ich ein Wimpel wehn
So keck wie eine Standarte,
Seh auf und nieder den Kiel sich drehn
Von meiner luftigen Warte;
O, sitzen möcht’ ich im kämpfenden Schiff,
Das Steuerruder ergreifen,
Und zischend über das brandende Riff
Wie eine Seemöwe streifen.

Wär ich ein Jäger auf freier Flur,
Ein Stück nur von einem Soldaten,
Wär ich ein Mann doch mindestens nur,
So würde der Himmel mir raten;
Nun muß ich sitzen so fein und klar,
Gleich einem artigen Kinde,
Und darf nur heimlich lösen mein Haar,
Und lassen es flattern im Winde!

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Geschlechterturm in der Mani

 

zitiert nach wikipedia

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About gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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12 Responses to 112 Stufen, 48: Anziehung (Annette von Droste-Hülshoff)

  1. *Am Turme* von Annette von Drosten-Hülshoff
    ist ein derart starkes poetisches Gedicht, daß ich es nie vergessen habe.
    Ihre Zeilen brennen sich in die Seele ein und man merkt, wie leidenschaftlich Zeile für Zeile niedergeschrieben wurde.
    Sie muß eine Frau mit starken Gefühlen gewesen sein.

    Toll, es nun hier bei Dir wiederzufinden, liebe Gerda!

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  2. Das hab ich schon gemacht und sehr darüber gestaunt *lächel*
    Ich kann mir diese Zeit, in der sie lebte, kaum vorstellen, aber ich war in Meersburg und habe die Meersburg besucht, weil ich von dieser Dichterin so fasziniert war.
    Inzwischen sind dort so unendlich viele Besucher, daß man sich nur noch schnell abwenden kann… Viel zu viele kaum interessierte Touristen, Gerda!

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  3. Avatar von ele21 ele21 sagt:

    magst du was sagen zu dem Turm, dessen Photo du hier gepostet hast?
    Lieben Gruß!

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    • Avatar von gkazakou gkazakou sagt:

      Es handelt sich um einen sogenannten „Geschlechterturm“, wie sie hier in der Mani sehr verbreitet sind. Die Türme entstanden als Verteidigungsanlage, denn die Familien waren untereinander sehr zerstritten, es herrschte Blutrache. Und so verbarrikanierte man sich in solchen Türmen. Es gibt Dörfer, da stehen sie dicht an dicht. Auch in Italien kennt man sie, besonders bekannt San Giminiano, das ich einmal besuchte.

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