Reiner hat ein „Mitmachding“ initiiert. Es geht darum, jeden Tag einen Text zu einem Wort zu posten, das sich auf der Holsteiner Treppe in Wuppertal, verteilt auf 9 Absätze befindet. Es reizt mich, da mitzumachen, allerdings eher nicht mit eigenen Textproduktionen, sondern mit literarischen Assoziationen und Gedichten anderer. Ich bin gespannt, welche Texte, Gedichte, Geschichten jedes dieser Wörter in meiner Erinnerung aufleuchten lässt. All diese Erinnerungen an Gelesenes und im Gedächtnis Aufgehobenes sollen mir einen nachklingenden Teppich weben, den ich über die Stufen lege, um noch einmal hinaufzusteigen.
Beherrscher oder Selbstbeherrschung? Das ist die Frage. Und als ich sie wälzte, tauchte eine verschüttete Liedzeile in mir auf:
Wer sein selbst Meister ist und sich beherrschen kann,
dem ist die weite Welt und alles untertan.
Ich muss sie wohl während der Schulzeit oder auch im Germanistikstudium irgendeinmal aufgesammelt haben. Ich suchte und fand das gesamte Gedicht samt Autor, die Zeile stammt aus ein Sonett von Paul Fleming (1609-1640), Arzt und Dichter des Barock und Zeitgenosse des Dreißigjährigen Kriegs.
Das Sonett lautet:
Sei dennoch unverzagt! Gib dennoch unverloren!
Weich keinem Glücke nicht, steh höher als der Neid,
vergnüge dich an dir und acht es für kein Leid,
hat sich gleich wider dich Glück, Ort und Zeit verschworen.
Was dich betrübt und labt, halt alles für erkoren;
nimm dein Verhängnis an. Laß alles unbereut.
Tu, was getan muß sein, und eh man dir’s gebeut.
Was du noch hoffen kannst, das wird noch stets geboren.
Was klagt, was lobt man doch? Sein Unglück und sein Glücke
ist ihm ein jeder selbst. Schau alle Sachen an:
dies alles ist in dir. Laß deinen eitlen Wahn,
und eh du förder gehst, so geh in dich zurücke.
Wer sein selbst Meister ist und sich beherrschen kann,
dem ist die weite Welt und alles untertan.
In seinem nach unseren heutigen Maßstäben kurz bemessenen Leben brachte der sächsische Pastorensohn Paul Fleming nicht nur eine beträchtliche Zahl wohlgestalteter Sonette in lateinischer und teutscher Sprache hervor, er absolvierte auch ein Medizinstudium und gelangte mit einer Gesandtschaft des Herzogs Friedrich III von Schleswig-Holstein-Gottorf über Nowgrorod nach Moskau (1634-35) sowie Reval (Tallinn, schwedisch-Estland), 1637-1639 nach Persien (Isfahan). Er heiratete eine Hamburger Kaufmannstochter, deren Schwester er zuvor seine Liebessonette gewidmet hatte (diese heiratete ihren Hauslehrer), promovierte 1640 an der Universität Leiden (1575 im protestantischen Norden der Niederlande gegründet) und starb im selben Jahr an einer Lungenentzündung, die er sich von Leiden nach Hamburg reisend zugezogen hatte.
Die sechs Jahre im Ausland haben ihn wohl vor den größten Gräueln des 30jährigen Kriegs bewahrt, aber auch sie fanden in seine Lyrik Eingang.
Neu, so Hans-Georg Kemper, sei in Flemings Sonetten der „Ton eines erlebten und erlebend reflektierenden Ichs“ (zitiert nach Wikipedia). Das ist auch der Grund, warum ich dieses Gedicht nun hierher gestellt habe. Die Sonne drehte sich zwar allmählich nicht mehr um die Erde, seit Kopernikus 1543 sein Hauptwerk De revolutionibus orbium coelestium veröffentlicht hatte, aber die Erde begann, sich ums Ich zu drehen. Und so ist es bis heute geblieben.
Oder?
Es gibt Stimmen, die behaupten: nicht der selbstbeherrschte Mensch, sondern Money makes the World go round.
