Der Evangelist Lukas schildert in einer eindrucksvollen Szene, wie der Erzengel Gabriel zu einer jungen Frau namens Maria tritt und ihr verkündet, dass sie den Thronfolger von König David zur Welt bringen wird. „Wie soll das zugehen“, fragt sie, „da ich doch von keinem Manne weiß?“
Maria erschrickt. Das kann ich gut verstehen. Ich stelle mir vor, wie ich das aufgenommen hätte als junge Frau, wenn plötzlich ein gewaltiger Engel in meinem Zimmer stünde und mir Ungeheuerliches verkündete. Ich werde schwanger, aber nicht von meinem Mann? Mein Sohn soll das Erbe des Throns eines Königreiches antreten, das es längst nicht mehr gibt? Palästina steht ja seit sechzig Jahren unter römische Herrschaft. Der von Rom eingesetzte Statthalter, König Herodes, der das Gebiet mit eiserner Faust regierte, ist tot. Überall gärt es, es kommt zu Aufständen, die blutig niedergeschlagen werden. Die wildesten Prophezeiungen machen die Runde… Und nun erfahre ich, eine junge Frau, dass ich demnächst schwanger sein werde und Mutter des Königs und Reichserben….
Das Erschrecken dieser jungen Frau steht am Anfang dessen, was wir unser „christliches Abendland“ nennen und in dessen Tradition auch ich stehe. Und so habe auch ich in meiner Kindheit diesen Text immer wieder gehört und in mir aufbewahrt.
(Ich nehme den Text in der Übersetzung von Luther, der sich mir tief eingeprägt hat. Die neueren Übersetzungen mag ich nicht so.)
Russische Ikone, anonym. Tretyakov Gallery, Wikimedia
Die Ankündigung der Geburt Jesu
Und im sechsten Monat wurde der Engel Gabriel von Gott gesandt in eine Stadt in Galiläa, die heißt Nazareth, zu einer Jungfrau, die vertraut war einem Mann mit Namen Josef vom Hause David; und die Jungfrau hieß Maria. Und der Engel kam zu ihr hinein und sprach: Sei gegrüßt, du Begnadete! Der Herr ist mit dir! Sie aber erschrak über die Rede und dachte: Welch ein Gruß ist das? Und der Engel sprach zu ihr: Fürchte dich nicht, Maria! Du hast Gnade bei Gott gefunden. Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, dem sollst du den Namen Jesus geben. Der wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden; und Gott der Herr wird ihm den Thron seines Vaters David geben, und er wird König sein über das Haus Jakob in Ewigkeit, und sein Reich wird kein Ende haben.
Da sprach Maria zu dem Engel: Wie soll das zugehen, da ich doch von keinem Manne weiß? Der Engel antwortete und sprach zu ihr: Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten; darum wird auch das Heilige, das geboren wird, Gottes Sohn genannt werden. Und siehe, Elisabeth, deine Verwandte, ist auch schwanger mit einem Sohn, in ihrem Alter, und ist jetzt im sechsten Monat, sie, von der man sagt, dass sie unfruchtbar sei. Denn bei Gott ist kein Ding unmöglich. Maria aber sprach: Siehe, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie du gesagt hast. Und der Engel schied von ihr.
Leonardo da Vinci, um 1472–1475, Uffizien (Wikipedia)
Das Erschrecken dieser jungen Frau steht am Anfang dessen, was wir unser „christliches Abendland“ nennen
Wow – wir bräuchten dringend wieder ein heiliges Erschrecken!
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Du sagst es! Momentan ist alles, was uns in Schrecken versetzt, nur grausam.
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