Spaziergang heißt auf griechisch Peripatos. Peripatetisch – im Kreis gehend – nennt man die Philosophie des Aristoteles, denn der Meister und seine Schüler gingen lehrend und diskutierend umher. Gehen hält das Denken geschmeidig.
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(Foto: Wikipedia)
Eben, auf unserem gewohnten nächtlichen Spaziergang, führten mein Mann und ich eine Diskussion über die „muselmanische Minderheit“ in Thrazien, die im Vertrag von Lausanne 1923 festgeschrieben wurde. Die Bewohner selbst bezeichnen sich als Türken, Roma, Pomaken, Bulgaren, werden jedoch amtlich ausschließlich über ihre Religionszugehörigkeit zugeordnet, mit dem Ergebnis, dass sie, obgleich äußerst heterogen, als eine Minderheit behandelt werden.
Ich zeigte Verständnis für diese sicher nicht optimale Lösung, da es sehr schwierig sei, objektive Unterscheidungsmerkmale anderer Art administrativ festzulegen. Selbstbestimmung sei auch keine gute Lösung, wie wir aus der Geschichte lernen können. Im übrigen sei ja das Wesentliche, dass alle Bewohner des Landes dem Gesetz nach Griechen sind und einen griechischen Pass, Freizügigkeit im Land und in der EU haben. Mein Mann war anderer Ansicht. Er fand, dass die Zuordnung von Moslems nicht-türkischer Herkunft zur „muselmanischen Minderheit“ ihre Identität opfert und sie faktisch zu Türken (der größten ethnischen Gruppe mit eigenem Konsulat und Vorrechten) macht. Das sei politisch unklug und menschlich inakzeptabel.
Wie sind wir auf das Thema gekommen? Ich hatte zuvor ein Video angeschaut, in dem der Nationalökonom Joseph Schumpeter ( 1883-1950) und sein Konzept der „creative destruction“ erwähnt wurden. Kreative Zerstörung – ganz mein Terrain. Ich las also im internet nach, was es mit diesem Konzept auf sich hat, und informierte mich über Schumpeters Biographie. So erfuhr ich, dass er seine erste Dozentur an der Universität von Czernowitz erhielt. Die gehörte damals zu Österreich-Ungarn und hatte eine deutschsprachige Bevölkerungsmehrheit, davon die meisten Juden. Heute ist es eine Stadt in der West-Ukraine. Also las ich die Geschichte der Stadt nach. Und wie die Bewohner zugeordnet, verwaltet, misshandelt, ermordet wurden bzw sich gegenseitig totschlugen oder kooperierten, kollaborierten, dem jeweiligen Feind auslieferten, sich ansiedelten, Kirchen bauten, Synagogen bauten, niederrissen, verbrannten…. Zerstörung und Neu-Erschaffung, immer wieder, als oftmals mörderischer Prozess der Geschichte, durch den Altes verschwindet und Neues entsteht.
Davon also erzähle ich meinem Mann, als wir die Straße unter dem vom Saharasand vernebelten Mond hochwandern. Ihm fallen Erlebnisse an den Prespes-Seen ein, die wir um die Jahrtausendwende besuchten. Dort treffen Albanien, Nordmazedonien und Griechenland aufeinander und Vertreibungen in alle Richtungen gehören zur Geschichte der Region. Schließlich landen wir in Thrazien, um uns darüber zu streiten, wie am besten mit den dortigen Minderheiten umzugehen sei und ob es klug sei, sich einzig auf die ausgeübte Religion zu beziehen und die ethnische Zuordnung und kulturelle Orientierung außen vor zu lassen. Ein äußerst komplexes Thema, an dem sich so mancher Krieg entzündet hat.
Während ich dies nun hier schreibe, läuft die Musik der Paneurythmie in meinem Hinterkopf mit. Sie hat in eben diesem Thrazien ihren Ursprung, denn hier lebte und wirkte in Vorzeiten Orpheus, Verkünder des harmonischen Zusammenlebens von Menschen, Tieren, Pflanzen und des gesamten Kosmos….Und es kommt mir so vor, als seien die Scheidungen und Unterscheidungen nach Ethnien, Kulturen, Religionen seither nicht weniger, sondern mehr und immer starrer geworden. Zeit, dem Pan neues Leben einzuhauchen.

Orpheus im Kreis der wilden Tiere. Zeichnung nach einer Marmor-Plastik des Byzantinischen Museums.
Ein immerwährendes Thema …
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Bei uns im Wirtschaftsunterricht nennt sich das „Schöpferische Zerstörung“ und der Schumpeter beschreibt, wie neue Technik (z.B. Autos) die alte verdrängt (z.B. Kutschen) und dadurch Wohlstand generiert.
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Genau. Schöpferisch oder kreativ… Das Beispiel mit der Kutsche und dem Auto wurde auch im Video erwähnt, das ich gestern ansah, mit ironischer Wende gegen heutige Politiker, die alte Modelle verbieten, bevor neue auf dem Markt sind.
Die Kutsche wurde erst aus dem Verkehr gezogen, als sie gegen das Auto keine Chance mehr hatte. Sie verschwand da ganz von selbst von den Straßen bzw wurde zu einem seltenen Anblick. Für Schumpeter war dies ein Beispiel für den inneren Motor des Kapitalismus.
Ganz anders heute in einer „Planwirtschaft ohne Plan“: da werden Verbrennungsmotoren verboten, bevor es kostengünstige und konkurrenzfähige Alternativen gibt. Damit die Alternativen überhaupt eine Chance haben, werden sie mit Steuergeldern stark subventioniert – was die kapitalistische Logik auf den Kopf stellt.
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das ist das geringste problem
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