Überlegungen zur Malerei fortgesetzt: Beziehungsdramatik

Das Folgende ist eine zweite Fortsetzung von Überlegungen, die ich unter dem Titel „Pareidolie/Gesichter sehen“ begann und unter dem Titel „Mensch im Bild/Perspektivwechsel“ fortsetzte.

Vielfigurenbilder galten früher als das A und O der Malerei. Und tatsächlich erfordert es hochentwickelte malerische Fähigkeiten, stumme Protagonisten zum Sprechen zu bringen und ihre Beziehungen untereinander zu verdeutlichen. Übliche Darstellungsmittel sind die Größenunterschiede zwischen den dargestellten Personen, ihre Bekleidung, Haltung, Gesten und Blicke, durch die sie zueinander in Beziehung treten. So entsteht ein aussagekräftiges kommunikatives Gewebe, das auf direkte Sprache verzichten kann. Man sieht, wer wichtig und wer unwichtig ist, wer Sprecher und Zuhörer, Täter und Opfer, Liebender, Kämpfender…

Eine besondere Rolle kommt immer schon den Gesten und Blicken zu. Der Grund ist einfach: Gesten und Blicke geben Richtungen an und verbinden so die Einzel-Figuren in verständlicher Weise. Als Betrachter muss man sich Zeit nehmen, ihnen zu folgen, will man nicht beim Offensichtlichen bleiben, sondern sich den inneren Sinn des Bildes erschließen

Um das ein wenig zu veranschaulichen, stelle ich zwei „Dramatiker der Malerei“ einander gegenüber: Giotto (1267/1276 – 8. Januar 1337), der der Frührenaissance zugeordnet wird, und Max Beckmann (1884-1950), einem „Modernen“ des beginnenden 20. Jahrhunderts und Leidenden am 1. Weltkriegs.  Die Illustrationen entnehme ich folgenden Büchern:

Natürlich will ich hier nicht das Werk dieser beiden großen und so verschiedenen Maler würdigen, sondern beschränke mich auf diesen einen Aspekt: Wie stellen sie die Beziehungen zwischen den abgebildeten Menschen dar?

Zweimal Giotto: eine Kreuzigungs- und eine Verratsszene.

Kreuzigung-Detail: Die Menschen schauen sich an, berühren sich, man sieht sie miteinander sprechen, man sieht, wie sie zuhören, zu verstehen suchen. Eine Person, hervorgehoben durch Heilgenschein und Krone, weist mit erhobener Hand auf die Zentralszene, eine andere schaut in die angegebene Richtung und stellt so eine Verbindung zum Zentrum her.

Verratsszene, Detail: Intensiver Augenkontakt zwischen Jesus und Judas, in den die Umstehenden förmlich hineingesogen werden. Ihre Augen sind weit geöffnet, schauen. Nichts kann sie ablenken, auch nicht die herumfuchtelnden Speere, Knüppel, Hörner. Jesus ist das ruhige, unübersehbare Zentrum:  geradlinig,  tief schaut er in Judas‘ Augen, der seinerseits stiert, die Backen aufbläst, umarmt, wo Verrat gemeint ist.

Beiden Bildern ist gemein, dass die Personen in unmittelbarem, intensivem zwischenmenschlichem Austausch stehen.

Auch Beckmann hat während des Krieges Szenen aus dem Neuen Testament gemalt: Kreuzesabnahme und Jesus und die Sünderin (beide 1917).

Ich habe überlegt, ob ich diese Bilder heranziehen soll, denn das, was ich an Beckmanns Bildern so charakteristisch finde, ist hier noch nicht voll zum Durchbruch gekommen: die Kommunikationslosigkeit seiner Figuren. Aber in Ansätzen ist sie schon vorhanden.

Kreuzigungs-Detail:

Die eine Figur schaut aus dem Bild heraus und macht mit der Hand die für Heiligenbilder typische hinweisende Geste. Diese Geste sagt: Schaut hin. Die andere Figur schirmt sich vom Anblick des Toten ab, schließt die Augen, formt eine abwehrende verkrampfte Faust: Sie will nicht hinschauen, verweigert sich.

Sünderin-Detail:

Hier ist es der Ankläger, der hinweist (schaut hin!) und sich zugleich entschieden abwendet, die Augen schließt und sogar zusammenkneift, um deutlich zu machen, dass er keinesfalls hinzuschauen gedenkt. Denn das, was er sehen würde, wäre ein schönes sündiges Weib. Auch Jesus macht eine doppelte Bewegung: Abwehr der Herandrängenden und Einbeziehung der Knieenden. Sein Auge ist weit offen in ein Jenseits gerichtet oder geschlossen – es bleibt ambivalent. Die „Sünderin“ hat die Augen geschlossen und berührt den Mantel Jesu. Es ist eine tief sich einfühlende Berührung. Obgleich ihre weibliche Schönheit dargestellt ist (Haarfarbe, offener Busen), ist sie ganz innerlich: alles, was geschieht, geschieht in ihr. Die aggressiven Gebärden der Männer können sie nicht erreichen.

Das Schließen der Augen kann also sehr verschiedenes bedeuten: Nicht hinschauen wollen, weil der Anblick schrecklich bzw. verlockend ist, oder aber innere Konzentration und Binnenschau.

Familienbild (1920)

Die abgebildeten Personen sind identifizierbar als Selbst, Ehefrau, Sohn, Schwiegermutter, Schwägerin, Haushaltshilfe. Eingepfercht im engen Kastenraum wie auf einer Bühne ist jeder mit sich selbst beschäftigt, sinniert, liest, überprüft die Frisur, verbirgt das Gesicht. Matt und schlapp der Maler mit seinem Kopfverband, das Horn in der einen Hand, die andere wie auffangend gekrümmt. Keine Hand reicht nach der anderen aus, kein Auge sucht das andere. Kommunikation findet nicht statt.

Vor dem Maskenball (1922)

In dieser Reprise des Familienbildes mit allen Attributen der bürgerlichen Gemütlichkeit gibt es mehr Raum zwischen den Personen, was sie noch beziehungsloser erscheinen lässt. Man ist fertig gekleidet für den Maskenball, doch nichts geschieht. Trompete und Tamburin schweigen. Jeder wartet für sich allein, mit sich selbst befasst, ohne Kontakt zu den anderen. Warten auf was? Auf etwas, das eintreten wird. Der Maler sieht es wohl schon, denn sein Blick hinter der Maske ist hellwach und geradeaus auf uns, die Betrachter, gerichtet.

Stärker als in diesen „friedlichen“ Familienszenen ist die Beziehungs- und Kommunikationslosigkeit in anderen Bildern dieser Zeit ausgedrückt – zum Beispiel im „Frauenbad“ titulierten Werk von 1919.

Alle Protagonistinnen schauen geradezu angestrengt in Richtungen, wo ihr Blick nicht auf andere trifft. Das ist gar nicht so einfach, denn sie sind ja auf engstem Raum zusammengedrängt. Die Frau auf der Schaukel bricht förmlich raus aus dem engen Raum, um ihrem selbstbezogenen Vergnügen nachzugehen. Alt und Jung drehen sich den Rücken zu. In Nischen hocken Kinder, um die sich niemand kümmert. Nur ganz vorn gibt es eine kleine Figur, ein Mädchen vielleicht, das einem krabbelnden Baby die offenen Hände hinstreckt.

Charakteristisch für diese Figurenbilder ist, dass sie „zentrifugal“ sind: sie haben kein haltendes Zentrum. Auch gibt es keinen haltenden Rahmen, das Geschehen könnte sich, genauso eng und beziehungslos, endlos in alle Richtungen fortsetzen. 

„Jeder für sich und Gott gegen alle“, fällt mir dazu ein – der Titel von Werner Herzogs Film über Kaspar Hauser.

 

 

 

 

 

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About gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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5 Responses to Überlegungen zur Malerei fortgesetzt: Beziehungsdramatik

  1. Avatar von Myriade Myriade sagt:

    Interessant! Danke

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  2. Avatar von Mitzi Irsaj Mitzi Irsaj sagt:

    Danke Gerda. Das war sehr interessant zu lesen und zu betrachten.

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  3. Ich dachte gleich an Beckmann, noch bevor ich den Text las.

    Charakteristisch für diese Figurenbilder ist, dass sie „kein haltendes Zentrum haben“. Genau das erinnerte mich auch an Beckmann.

    Vorgestern war ich in einem modernen Theaterstück. Die Stilmittel des Stücks, seine Regie hätten aber durchaus zu jemand gepasst aus dem Theaterkanon vergangener Jahrzehnte. Dachte auch etwa an Fassbinder.
    WAS ist also tatsächlich NEU (an einem Kunstwerk/in der Philosophie ect)? das kann man sich des öfteren fragen.

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  4. Es gibt diese unerwarteten Perlen. Ich las deinen Artikel und war hin und weg, da er mich auf die Konstellation und die Bildsprache aufmerksam gemacht hat, die ich zwar auch bemerke, aber vielleicht unter anderen Aspekten. So etwas rüttelt mich auf, lässt mich die Bilder/Gemälde neu besehen und verschafft mir neuen Spaß, mich mit Kunst auseinanderzusetzen. Vielen Dank dafür, mich aus meinen gemütlichen Fokus hinausbugsiert zu haben – auch der Vergleich, moderne, klassische Kunst, das verbindliche Verhältnis der Kommunikation, lässt sich überdenken und neu formulieren 🙂 Schön. Viele Grüße!

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  5. Irre, wie ein Künstler Menschen in Szene setzen kann. Wenn ich mir die Bilder von Beckmann ansehe, bekomme ich Gänsehaut, liebe Gerda.

    Ich hatte sie bisher nie gesehen. Wie müssen sie erst real wirken?

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