Reiner hat ein „Mitmachding“ initiiert. Es geht darum, jeden Tag einen Text zu einem Wort zu posten, das sich auf der Holsteiner Treppe in Wuppertal, verteilt auf 9 Absätze befindet. Es reizt mich, da mitzumachen, allerdings eher nicht mit eigenen Textproduktionen, sondern mit literarischen Assoziationen und Gedichten anderer. Ich bin gespannt, welche Texte, Gedichte, Geschichten jedes dieser Wörter in meiner Erinnerung aufleuchten lässt. All diese Erinnerungen an Gelesenes und im Gedächtnis Aufgehobenes sollen mir einen nachklingenden Teppich weben, den ich über die Stufen lege, um noch einmal hinaufzusteigen.
„Verzweiflung“ ist das heutige Wort – und sofort fällt mir Sören Kierkegaards „Die Krankheit zum Tode“ ein (Sygdommen til Døden, 1849 unter Pseudonym veröffentlicht). Und als zweites fällt mir Friedrich Nietzsche ein, der in mancher Hinsicht wie ein lebender Beispielsfall für Kierkegaards Erörterungen gelten kann. Kierkegaard (1813-1855) starb, als Nietzsche (1844-1900) elf Jahre alt war und der christliche Glaube im Gefolge der Aufklärung in ärgste Bedrängnis geraten war. Inzwischen gehört die Nichtgläubigkeit zur Normalität des aufgeklärten Menschen – was, nach Kierkegaard, die Stufe der tiefsten Verzweiflung ist, da das Bewusstsein nicht einmal mehr erkennt, was ihm fehlt.
Die Eingangssätze zu Kierkegaards Schrift sind berühmt geworden:
„Der Mensch ist Geist. Aber was ist Geist? Geist ist das Selbst. Aber was ist das Selbst? Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist das am Verhältnis, dass das Verhältnis sich zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Verhältnis, sondern dass das Verhältnis sich zu sich selbst verhält. Der Mensch ist eine Synthese von Unendlichkeit und Endlichkeit, von Zeitlichem und Ewigem, von Freiheit und Notwendigkeit, kurz, eine Synthese.“
Als die drei Hauptverhältnisse des Selbst zu sich selbst, die mit dem Bewusstsein seiner selbst zu tun haben, benennt Kierkegaard: a) Ich will verzweifelt ich selbst sein (ich empfinde, nicht authentisch zu sein; „eigentlich“ bin ich nicht ich selbst) – b) Ich will verzweifelt nicht ich selbst sein (ich wehre mich dagegen, das erfahrene Selbst als wirklich anzuerkennen; ich lehne mich selbst ab, ich hasse mich selbst) – c) Ich verzweifele mir nicht bewusst zu sein, ein Selbst zu haben (ich weiß nichts von einem Selbst, und das heißt: weiß nichts von Gott, der das Selbst gesetzt hat; ich bin ohne Bezug zu meiner Quelle).
Im Grunde beschreibt Kierkegaard mit den beiden ersten Hauptverhältnissen das, was man heute „misslingende Identitätsbildung“ nennt: Ich möchte der sein, der ich eigentlich bin, doch gelingt es mir nicht // Ich will nicht der sein, der ich bin, kann mir aber nicht selbst entfliehen. Im dritten Hauptverhältnis ist die Verzweiflung unbewusst und daher am tiefsten, denn die Verbindung zum Selbst, also zu Gott, der das Selbst gesetzt hat, kann gar nicht realisiert werden. Bei Camus, der sich im Gegensatz zum christlichen Philosophen Kierkegaard als Atheist versteht, heißt es später entsprechend: „Das Absurde ist die Verzweiflung ohne Gott.“
Und Friedrich Nietzsche, der verkündete und zugleich beklagte, dass „Gott tot“ sei? „Gott ist tot. Gott bleibt tot: Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unsern Messern verblutet – wer wischt dies Blut von uns ab?“ ( aus: „Die fröhliche Wissenschaft“, 1881).
Verzweiflung
Friedrich Nietzsche
Von Ferne tönt der Glockenschlag,
Die Nacht, sie rauscht so dumpf daher.
Ich weiß nicht, was ich tuen mag;
Mein Freud‘ ist aus, mein Herz ist schwer.
Die Stunden fliehn gespenstisch still,
Fern tönt der Welt Gewühl, Gebraus.
Ich weiß nicht, was ich tuen will:
Mein Herz ist schwer, mein‘ Freud‘ ist aus.
So dumpf die Nacht, so schauervoll
Des Mondes bleiches Leichenlicht.
Ich weiß nicht, was ich tuen soll…
Wild rast der Sturm, ich hör‘ ihn nicht.
Ich hab‘ nicht Rast, ich hab‘ nicht Ruh,
Ich wandle stumm zum Strand hinaus,
Den Wogen zu, dem Grabe zu…
Mein Herz ist schwer, mein Freud‘ ist aus.
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Das hört sich gar nicht wie Nietzsche an, könnte Theodor Storm sein z.B. Aber Du musst es ja wissen.
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weil „Meer“ drin vorkommt? Kennst du Gedichte von Nietzsche, mit denen du dies vergleichst?
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Zweifel ohne Zweck und Ziel kann leicht zur Verzweiflung führen. Ebenso Selbstgewißheit, die auf nichts Festes baut. –
Aber Kierkegaard? Wieso Synthese, da es doch Gegensätze sind, die sich wieder einmal unvereinbar zeigen? Wenn es zu ein Synthese kommt, dann haben sie sich, haben sich These und Antithese doch irgendwie verständigt, verbunden. Doch solange sie sich gegenüberstehen, streiten, sich behaupten kommt es nicht dazu. Und wenn es nicht dazu kommt und zugleich die Energie zum weiteren Streiten fehlt, dann ist das wohl eine heftige Form der Verzweiflung.
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Danke dir für deine (ver)zweifelnden Anmerkungen! Leider gehts nicht, hier im Kommentarstrang in eine inhaltliche Diskussion einzutreten.
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Nein, ich wunderte mich über diese so kindlich schlichte Sprache. Wie paßt das zu dieser Geistespersönlichkeit?
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Manchmal hat man ein falsches Bild von einer historischen Persönlichkeit, weil so oft über sie geschrieben wurde. Da ist es besser, man geht an den Ursprungstext.
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