112 Stufen, 15: Vergeben (Ricarda Huch, Tolstoi, Matthäus-Evangelium)

Reiner hat ein „Mitmachding“ initiiert. Es geht darum, jeden Tag einen Text zu einem Wort zu posten, das sich auf der Holsteiner Treppe in Wuppertal, verteilt auf 9 Absätze befindet. Es reizt mich, da mitzumachen, allerdings eher nicht mit eigenen Textproduktionen, sondern mit literarischen Assoziationen und Gedichten anderer. Ich bin gespannt, welche Texte, Gedichte, Geschichten jedes dieser Wörter in meiner Erinnerung aufleuchten lässt. All diese Erinnerungen an Gelesenes und im Gedächtnis Aufgehobenes sollen mir einen nachklingenden Teppich weben, den ich über die Stufen lege, um noch einmal hinaufzusteigen.

Das erste, was mir zu diesem Wort „Vergeben“ einfiel, war das Gedicht von Ricarda Huch: „Mein Herz, mein Löwe“, wo sie schwört, niemals zu vergeben und zu vergessen, sondern weiter zu hassen das Böse, das Verfluchte, das sie nicht benennt, das ich aber stets mit den Verbrechen des Nationalsozialismus assoziiert habe. Das Gedicht wurde 1944 im Band „Herbstfeuer“ veröffentlicht. Ricarda Huch lebte von 1864-1947.

Mein Herz, mein Löwe, hält seine Beute fest,
Sein Geliebtes fest in den Fängen,
Aber Gehaßtes gibt es auch,
Das er niemals entläßt
Bis zum letzten Hauch,
was immer die Jahre verhängen.
Es gibt Namen, die beflecken
Die Lippen, die sie nennen,
Die Erde mag sie nicht decken,
Die Flamme mag sie nicht brennen.
Der Engel, gesandt, den Verbrecher
Mit der Gnade von Gott zu betauen,
Wendet sich ab voll Grauen
Und wird zum zischenden Rächer.
Und hätte Gott selbst so viel Huld,
zu waschen die blutrote Schuld,
Bis der Schandfleck verblaßte –
Mein Herz wird hassen, was es haßte,
Mein Herz hält fest seine Beute,
Daß keiner dran künstle und deute,
Daß kein Lügner schminke das Böse,
Verfluchtes vom Fluche löse.

Dieses Gedicht hat mich schon früh fasziniert und erschreckt. Nein, mein Herz ist kein Löwe, das empfand ich. Ich wollte den blutigen Fetzen nicht im Maul herumtragen, aber ausspucken konnte ich ihn auch nicht. So würgte es mich und würgt mich bis heute. Natürlich hatte ich eigentlich nichts zu vergeben, denn mir war ja nichts Böses geschehen, nicht wahr? Ich persönlich hatte auch nichts Böses getan, da war ja „die Gnade der späten Geburt“, die mich exkulpierte. Und doch, es war „im Namen des deutschen Volkes“ geschehen, und es nutzte gar nichts zu behaupten, ein solches Volk sei eine Fiktion und sogar etwas, dessen Erwähnung der Verfassungsschutz neuerdings als rechtsextrem einstuft….

Ich möchte dem Gedicht von Ricarda Huch, das mich in seiner Radikalität nicht nur fasziniert, sondern auch verstört hat, einen anderen Text entgegensetzen: Tolstois „Auferstehung“, 1899 erschienen.  Diesen dritten großen Roman Tolstois beendete ich gestern abend.

Katjuscha und Matrjana, die alte Dienerin der Tanten, während der Ostermesse in Panowo (Illustration von Leonid Pasternak)

Ich beziehe mich auf die letzten Seiten des Romans. Der Protagonist, Fürst Nechliudow, der einem Zug von Strafgefangenen nach Sibirien gefolgt ist, da er sich an dem Schicksal der Gefangenen Katjuscha schuldig findet, ist verzweifelt über die Einrichtung der Welt, die dazu führt, dass das Böse sich immer fortpflanzt und vermehrt. Die Strafjustiz hilft nicht nur nicht, dass es weniger Verbrechen gibt, sondern sie bringt das Verbrechen oft erst hervor, indem sie straffällig gewordene Menschen durch die Bedingungen der Haft zu Schwerverbrechern macht.

Nach einem schrecklichen Besuch im Gefängnis schlägt er das Evangelium auf, das er gerade geschenkt bekommen hat, und liest bei Matthäus: „21 Da trat Petrus zu ihm und sprach: Herr, wie oft muss ich denn meinem Bruder, der an mir sündigt, vergeben? Ist es genug siebenmal? 22 Jesus sprach zu ihm: ich sage dir, nicht siebenmal, sondern siebenzig siebenmal.“

Nun folgt das Gleichnis: „Darum ist das Himmelreich gleich einem Könige, der mit seinen Knechten rechnen wollte.“ Als erstes kommt ein Knecht, der schuldet zehntausend Pfund, und der Herr befiehlt ihm, Haus und Hof und seine Frau und Kinder zu verkaufen, um die Schulden zu begleichen.  Der Mann fleht um Aufschub und Schuldenerlass und erhält sie auch. So von seiner Schuldenlast befreit, geht er hinaus zu einem Mitknecht, der ihm hundert Groschen schuldet. Er erhört nicht das Flehen des Schuldners, sondern lässt ihn ins Gefängnis werfen. Der König ist sehr erzürnt, als er davon hört. . . „32 Du Schalksknecht, alle diese Schuld habe ich dir erlassen, dieweil du mich batest. 33 Solltest du denn dich nicht auch erbarmen über deinen Mitknecht, wie ich mich über dich erbarmt habe?“

Tolstoi beschreibt nun die Wirkung dieser Lektüre auf Nechliudow. „Und es geschah mit Nechliudow, was oft geschieht mit Menschen, die ein geistiges Leben leben. Es geschah, dass der Gedanke, der ihm erst als eine Absonderlichkeit, als ein Paradox, sogar als ein Scherz erschienen war, plötzlich, nachdem er ihn häufiger im Leben bestätigt gefunden hatte, als ganz einfache, unzweifelhafte Wahrheit vor ihm stand. …… Es wurde ihm jetzt klar, dass all das fürchterliche Übel, dessen Augenzeuge er in den Gefängnissen und Kerkern gewesen, und die ruhige Selbstgewissheit derjenigen, die dies Übel hervorbrachten (die Gerichte, Strafverfolgungsbehörden etc), nur daher rührte, dass die Menschen eine unmögliche Sache wollten. Lasterhafte Menschen wollten lasterhafte Menschen bessern und wähnten, es auf mechanischem Wege zu erreichen. ….. Die Antwort, welche er nicht finden konnte, war dieselbe, die Christus dem Petrus gegeben: sie bestand darin, dass man immer allen unendlich verzeihen soll, weil es niemand gibt, der selber unschuldig wäre und darum die anderen strafen und bessern könnte.

Das doppelte Gitter zwischen den Gefangen und ihren Besuchern

 

 

 

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About gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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2 Responses to 112 Stufen, 15: Vergeben (Ricarda Huch, Tolstoi, Matthäus-Evangelium)

  1. Avatar von latifolius latifolius sagt:

    Irgendwo las ich folgenden Satz des kürzlich gestorbenen Papstes Franziskus: „Gott vergibt unsere Schuld nicht, er vergisst sie.“

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