Ein paar zornige Anmerkungen zu Hesses Glasperlenspiel

Heute Nacht habe ich die Biographie des Joseph Knecht, Held des Romans „Glasperlenspiel“, zuende gelesen – noch ohne den Anhang mit seinen Hinterlassenschaften. Als ich das Buch um halb vier Uhr morgens schloss, war ich zornig. Ich musste, ganz ähnlich dem Ordensmeister im Buch, erst mal tief durchatmen und meine inneren Aufwallungen beruhigen, bevor ich schlafen konnte. Was für ein Blödsinn! Was für ein hirnverbrannter Blödsinn! wollte ich schreien.

Ich bitte alle Liebhaber Hesses und des Glasperlenspiels um Verzeihung, aber für mich ist das Buch der erhabenste Schwindel, dem ich jemals aufgesessen bin.

An zwei entscheidenden Punkten fühle ich mich durch den Autor verraten.

Hesse lässt durch seinen Erzähler über dreihundertfünfzig Seiten hin die Figur des Joseph Knecht vor mir entstehen: ein Kind zunächst, das jung in das System der Eliteschulen Kastaliens aufgenommen wird und darin einen modellhaften Aufstieg zum Magister des Glasperlenspiels hinlegt. Als er alles erreicht hat, überkommt ihn die Sehnsucht nach „Wirklichkeit“, die es in dem künstlichen System Kastaliens nicht gibt. Er verfasst ein „Rundschreiben“ an seine Kollegen, in dem er ihnen klarmacht, dass Kastalien nur eine kleine Welt in der großen Welt und daher gefährdet sei, und bittet um Entlassung aus dem Orden.

Auf diese Entwicklung hatte ich lange warten müssen. Endlich! dachte ich. Endlich begreift der Held, dass er in einem Elfenbeinturm sitzt, wo er seine Talente vergeudet. Endlich begreift er, dass es auch noch ein anderes Leben „da draußen“ gibt, das ihn und sein Elitedasein ermöglicht, das ihn einfordert, dem gegenüber er Pflichten hat.

Knechts Befreiungsschlag ließ mich hoffen, dass nun die große Wende käme. Das Buch hat ja noch viele Seiten. Jetzt wird Hesse das immer wieder angedeutete Versprechen einlösen und zeigen, wie sich die „Welt des Geistes“ und die „Wirklichkeit“ versöhnen lassen.

Pustekuchen! Daraus wird nichts. Magister Joseph Knecht tritt zwar aus dem Orden aus, nimmt sein Flötchen und macht sich auf die Socken zu einem alten Bekannten, dessen Sohn Tito sein erster Zögling „in der Welt“ sein soll. Tito hat durch seine gesellschaftliche Stellung die richtigen Voraussetzungen, um aus ihm einen tüchtigen „Herrn“ zu machen – einen Führer der Menschheit oder so. Zuerst aber muss man den Knaben seiner Mutter abschwatzen, die ihn nicht adäquat zu erziehen weiß. Sie ist übrigens die einzige Frau, die im Roman vorkommt. Bis zu einem Eigennamen bringt auch sie es nicht. Sie ist abwechselnd „Ehefrau, Mutter, Dame“.

Ach nein, falsch! Es kommt auch noch eine namenlose „Magd“ vor, die den Magister und seinen Zögling in einer Berghütte versorgen wird. Oder richtiger: versorgen würde. Denn dazu kommt es nicht mehr. Der Magister ertrinkt, bevor er sein erzieherisches Werk beginnen kann, in einem Gletschersee, in den er gesprungen ist, um seinem Zögling zu imponieren. Seine erste Begegnung mit der „Wirklichkeit“ verläuft tödlich. Und so wird es nichts mit der Versöhnung der Welten der Materie und des Geistes.

Als ich das Buch an dieser Stelle zuklappte, war ich zornig. Wozu das Ganze? Wozu all die Bildung und Feinsinnigkeit, wozu die Seelenschmerzen und Entschlüsse des Menschen Joseph Knecht, wenn alles, was er der Welt zu bieten hat, ist, in einem entlegenen Bergsee zu ertrinken? Was will Hesse damit bekunden? Dass die „Wirklichkeit“ mörderisch ist?

Natürlich bin ich ungerecht. Ich habe zahlreiche kluge Stellen im Buch angestrichen, die mir Stoff zum Nachdenken bieten. Es gibt sehr schöne poetische Passagen. Der geistige Raum Kastaliens ist in all seinen Fazetten in mir lebendig geworden und wirkt nach. Es ist ein fein duftender, klingender Raum, in dem das Beste unserer Kultur versammelt und quasi zu ätherischen Ölen destiliert ist.

Der tiefere Grund für meinen Zorn ist natürlich, dass ich eine Frau bin. Und dass ich wieder einmal empfand, dass wir Frauen gefälligst als „Mutterboden“ dienen sollen, auf dem die zartbesaiteten Männer ihre Kulturleistungen erbringen und ihre Elfenbeintürme errichten.  Frauen haben da nichts zu suchen, sie gehören der grob materiellen Welt an, in der sich auch die nichtgeistigen Männer bewegen, um ihre Instinkte und Lüste auszuleben und ihre Kriege zu führen. Im Grunde gehören wir nicht  einmal zur „Wirklichkeit“, die der Herr Magister sucht, denn auch da sind wir irgendwie nur Störenfriede. Man halte uns fern, wenn das Erziehungswerk gelingen soll.

Nein, ich will keineswegs in Hesses Elite-Orden eintreten. Ich will nur, dass geistig hochstehende Männer wie er aufhören, die Eine-Welt auseinanderzudividieren in „geistige“ und „materielle“ Welten, wobei „Materie“ – aus „mater“, Mutter, hergeleitet – uns Frauen zugewiesen wird. Wir sind ganze Menschen und die Welt ist eine! Körper, Seele und Geist sind uns allen zu eigen – egal welchem Geschlecht, welcher Rasse oder Weltgegend wir angehören.

 

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About gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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50 Responses to Ein paar zornige Anmerkungen zu Hesses Glasperlenspiel

  1. Ich habe das Glasperlenspiel mit 17 etwa gelesen und komplett vergessen. Deshalb habe ich deine Rezension mit Neugier und Gewinn gelesen. Deine zornige Kritik sagt mir, dass ich den Roman nicht noch einmal zu lesen brauche, um zu erkennen, wo du Recht hast.

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    • Avatar von gkazakou gkazakou sagt:

      Danke, Jules. Ich habe immer einen großen Bogen um Hesse gemacht und bin trotz meines Zorns froh, dieses bedeutende Werk nun endlich gelesen zu haben. Ich bin auch noch nicht fertig damit.

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      • Avatar von wildgans wildgans sagt:

        warum immer einen großen Bogen um Hesse gemacht?

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      • Avatar von gkazakou gkazakou sagt:

        aus zweierlei Gründen: a) wegen der Begeisterung, die er mit seinen frühen Romanen bei der Generation meiner Eltern auslöste, die dann bei BDM und SA landete, und weil die Deutschlehrer ihn mochten und b) wegen des Taschenbuchs von Deschner „Kitsch, Konvention und Kunst“, das mir im Jugendalter zum Leitfaden wurde. Musil, Hans Henny Jahnn, Hermann Broch: JA! Hesse:NEIN. Ich erinnere mich noch heute an die Häme, mit der Deschner das Gedicht „Seltsam im Nebel zu wandern“ kommentierte.

        Und hier vor allem den Reim in:
        Voll von Freunden war mir die Welt,
        Als noch mein Leben licht war;
        Nun, da der Nebel fällt,
        Ist keiner mehr sichtbar.

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      • Das Seltsame, ich mochte den späten Hesse stets gern, und bin seit je völlig begeistert (im vollumfänglichen Sinne des Wortes) von Musil und Broch. Dein Henny Jahn habe ich als Gesamtwerk hier stehen (deinetwegen), muss nur die Zeit finden, eines der dicken Schinken zu lesen. 😀 Viele Grüße! Und Danke für den Austausch!!

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      • Avatar von gkazakou gkazakou sagt:

        Die sämtlichen Werke von Hans Henny Jahnn habe ich noch immer im Regal stehen, aber ich glaube nicht, dass ich sie heute noch lesen könnte. Doch vielleicht versuche ich es mal, um zu verstehen, was mich in jungen Jahren so an ihm gefesselt hat.

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    • Du solltest mit Hesse nicht zu arg ins Gericht gehen, liebe Gerda. Mir fiel auch auf, was Du beschreibst, aber es ist mehr als 10 Jahre her, seitdem ich das Glasperlenspiel gelesen habe und wage aus der zeitlichen Entfernung keine Einschätzung mehr. Eines weiß ich, es hat mir gutgetan, mich mit diesem gar nicht so einfachen Stoff zu befassen. Ich erinnere mich aber, daß ich es nicht fassen konnte, daß Hesse *seinen* Knecht ertrinken ließ und das ziemlich auf die Schnelle, was mich sehr erstaunte.

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    • Avatar von gkazakou gkazakou sagt:

      Ja, es ist so, als wollte er seinen Helden schnell „entsorgen“, weil er mit ihm „in der Welt“ nichts anfangen konnte. Der ganze Teil nach Knechts Abschied aus kastalien ist fürchterlich, bombastisch, gesellschaftlich inkompetent-reaktionär bis auf die Knochen. Tut mir leid. Solange er sich in der Kunstwelt Kastaliens bewegt, hat die Konstruktion ihren Reiz, ihre Raffinesse. Danach: schlimm.

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  2. Ich sage nur ein Wort, Gerda : spam

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  3. Avatar von Ola Ola sagt:

    das ist doch alles Geschichte.

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    • Avatar von gkazakou gkazakou sagt:

      Hesse hat Kastalien als Utopie erdacht, die in einer künftigen Epoche angesiedelt ist. Im Grunde ist sie geschichtslos (u-topi = ohne Ort).

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      • Avatar von Unbekannt Anonymous sagt:

        Aber jeder ist ein Produkt seiner Zeit, über was immer er schreibt.Man kann jeden Schreiber u jede Geschichte mögen oder nicht. Mich verwunderte nur das Wort zornig.

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      • Avatar von gkazakou gkazakou sagt:

        Ja,ich war auch verwundert über mein Gefühl des Zorns. Hinter Zorn versteckt sich immer eine enttäuschte Liebe. Ich hatte mich mit großer Geduld und voller Bereitschaft, seinen Gedanken zu folgen, auf das Buch eingelassen, und dann kam sogar ein Moment der Hoffnung auf, dass Hesse eine Antwort für eine der wichtigen Lebensfragen vorschlägt: nämlich, wie der kultivierte Geist hineinwirken kann in das Weltgeschehen. Und da versagt Hesse vollkommen. So sehe ich das. Sein Held wird mit einem lebhaften zum künftigen „Herrn“ und zur „Führerpersönlichkeit“ tauglichen Knaben aus altem Patriziergeschlecht in die heroische Einsamkeit der Berge versetzt – um was mit ihm zu tun? Wahrscheinlich fiel Hesse dazu dann auch nichts mehr ein, also ließ er ihn kurzerhand ertrinken. Und das im Jahr 1943!! Die Stauffenbergs waren von einem ähnlichen geistig-politischen Format. Wenn das die Alternative zum grassierenden nationalsozialismus und Kommunismus sein soll – dann Gnade uns Gott!
        Sicher, Hesse ist nicht schuld. Er ist wie er ist. Mein Zorn spiegelt meine eigene Hilflosigkeit, Antworten zu finden.

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  4. Avatar von sagemaere sagemaere sagt:

    Hallo Gerda! Danke für diese Gedanken. Ich bin eigentlich seit der Jugend Hesse-Liebhaber, aber ihm ist es in der Tat nie gelungen, eine überzeugende weibliche Figur zu schreiben, wenigstens in den Romanen, die ich kenne. (Praktisch alle außer Glasperlenspiel, bei dem ich verschiedene Male Anlauf genommen habe aber immer auf der Strecke geblieben bin).

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    • Avatar von gkazakou gkazakou sagt:

      Danke für die Rückmeldung! ich habe nichts weiter von Hesse gelesen. Im Glasperlenspiel hat er gleich ganz auf Frauen verzichtet (mit Ausnahme der namenlosen Ehefrau seines Freundes). Ist vielleicht auch besser so. Man schreibt besser nicht von „Dingen“, die man nicht versteht. Ich finde übrigens, der Roman deckt (wohl unabsichtlich) viele Bruchstellen auch in unserer heutigen Denkweise auf und ist daher durchaus aktuell.

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  5. Interessant finde ich, dass die Hauptfigur dem erhabenen Gehabe Hesses selbst sehr nahe kommt, wobei Ehefrauen und gute Freunde gerne als materielle oder seelische Stütze verwendet wurden. Der von ihm eigenhändig angelegte Garten ist trotzdem sehr schön, genutzt hat er aber die schöne Wirklichkeit nicht, sondern ist nach kurzen Jahren weggezogen, drei Kinder hin oder her. Danke, dass du diesen Roman so gründlich gelesen hast!

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    • Avatar von gkazakou gkazakou sagt:

      Es war eine durchaus interessante augenöffnende Lektüre. Über Hesses Privatleben weiß ich wenig, aber es wird schon eine gewisse Übereinstimmung zwischen dem Magister und Hesse selbst geben.

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  6. Gerda, Deine „Wut“ oder Empörung kann ich verstehen. Hesses „Glasperlenspiel“ wollte ich immer lesen, habe es aber nicht. Nun faßt Du das alles – aus Deiner momentanen Sicht – kurz zusammen und „bringst es auf den Punkt“.
    Was ich vor allem sagen wollte, ist, daß ich Deine lineare Zeichnung ausdrucksvoll und sehr lebendig finde, aber vor allem Dein Gemâlde mir sehr gut gefällt.
    Ich nehme an, daß Du das Gemälde schon früher maltest, und es wirkt ja lichtvoll, strahlend, Kraftvoll und wunderschön, jedenfalls nicht „wütend“.
    Und das Linienspiel wirkt gelöst und frei fließend und auch kein bißchen „wütend“.
    Somit hast Du nur mal kurz Deiner Enttäuschung in Worten Ausdruck gegeben und es zugleich überwunden und abgelegt.
    Was bleibt, sind Deine schönen Kunstwerke.

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  7. Diese Analyse verdient einen längeren Kommentar, als ich durch Arbeit und Müdigkeit momentan in der Lage bin zu schreiben – zuerst bin ich ein Hesse Vielleser geblieben, und zwar ob der Sprache, deine Kritik verstehe ich wohl und sie trifft einen klaren Punkt. Ich habe das Glasperlenspiel stets als eine Auswanderung aus der Engstirnigkeit, aus der Angst vor dem Anderen, dem Fremden gelesen, und hier passt der Zorn trefflich. Sich aus dem Schneckenhaus trauen, sich in die Welt, in eine Beziehung, in den Kontakt hineinbegeben, sozusagen, sein ideologisches Kämmerlein zu durchschreiten, so lese ich das. Ich lese es als Liebesroman zum Lesen, und erst nach dieser Öffnung kann für Joseph überhaupt eine Frau erscheinen, erst nach Öffnung der Sinne beginnt die Liebe, die vorher in der Ängstlichkeit des Virtuosentum erstickt wird. Ich lese Das Glasperlenspiel als invertiertes Hyperion, der viel zu früh seine Diotima trifft, und die Liebe zerstört ob seines Idealismus. Daher werfe ich das dem Buch nicht vor. Die Herausgeber und Knecht selbst sagen explizit, Kastalien ist etwas für Feiglinge, für die mönchischen Sauertöpfe, für jene, die Angst vor ihrem eigenen Herzen haben. Viel schlimmer fand ich stets und immer wieder Der Steppenwolf, wo das noch etwas künstlerisch verklärt wird und Frauen dann als Lustobjekt auf der Tanzfläche hin und her geschoben werden. Die Einseitigkeit könnte so als Teil des Plots gesehen werden. Als Eingeständnis, eben gar nichts darüber wirklich wissen zu können 😁 und manchmal ist anerkannte Beschränkung besser zu ertragen als bemühtes Einbeziehen, würde ich sagen. Viele Grüße!! (mir fallen etwas die Äuglein zu).

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    • „Liebesroman zum Leben“ … meinte ich 😳

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    • Avatar von gkazakou gkazakou sagt:

      Herzlichen Dank für deinen schlaftrunkenen Kommentar. Hölderlin war ja durch dieselbe Schule gegangen wier Hesse, insofern ist es nicht abwegig, ihr Verhältnis zu Frauen zu vergleichen. Ich kann mir aber kein wirkliches Urteil erlauben, weil ich von Hesse eben nur dies eine Buch gelesen habe. Und die anderen nun auch nicht mehr lesen werde. Das „Alterswerk“ wird, so denke ich, die summa seiner Einsichten ins Leben versammeln. Und dazu gehört eben ein Abschwören oder Ignorieren der „Wirklichkeit“, insofern sie aus mehr als Zahnweh, Windböe bei anziehendem Gewitter und schließlich Waldeinsamkeit, Bergwelten und Gletschersee besteht.

      Ich stimme dir unbedingt zu, dass er klug daran handelte, die Frauen aus dem Spiel zu lassen. An einer Stelle kann er es ja nicht vermeiden, eine „Dame“ – Ehefrau des Freundes – macht sich unangenehm bemerkbar und wird abgekanzelt und beiseitegeschoben. Ansonsten gibt es noch die „Mutter“ des Freundes, die dieser herzlich liebt (was vielleicht zu dessen wenig erfreulicher Persönlichkeitsentwicklung beitrug?) und ein bisschen Folklore.

      Was mir nun auffällt, ist, dass Knecht seine erzieherischen Bemühungen ausgerechnet auf solche „Muttersöhnchen“ richtet (der Freund, dessen Sohn, die sehr jungen Schüler, die er sich wünscht), um sie zu „Herren“ zu machen. Jedenfalls wird es so dargestellt. Aber ist es so? Wenn ich an die letzte Szene mit dem Knaben denke, wie er enthusiastisch die Sonne betanzt, und der Magister ihm dann in den Gletschersee nachspringt, um sich als dem Knaben gewachsen zu beweisen – so scheint mir, dass sich hier ein Knabenliebhaber (Übersetzung des griechischen Wort Παιδεραστης, Päderast) entdeckt. Diese Entdeckung nötigt Hesse, den Magister ertrinken zu lassen, weil er nicht weiß, wie er damit umgehen soll. Der Magister ist kein Feigling, vielleicht aber sein Autor? Sein Mut verlässt ihn, als er die wirkliche „Wirklichkeit“ seines Helden, dem er ja ziemlich ähnelt, entdeckt.

      Ist das eine zu tollkühne Interpretation?

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      • Tollkühn ist sie schon, Gerda!

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      • Avatar von gkazakou gkazakou sagt:

        Ja, man könnte es missverstehen. Dabei ist das Wort „Knabenliebhaber“ (Päderast von gr paidi = Knabe) in der griechischen Antike überhaupt nicht anrüchig. Die älteren, reifen und gebildeten Männer waren als Erzieher und Liebhaber von Knaben akzeptiert. Die Liebe und Freude, die der Weise in Gesellschaft eines frischen, lebensvollen aufnahmefähigen Knaben empfand, machte ihn zum guten Lehrer und Erzieher – so meinte man.
        Dass Hesse bei der griechschen Antike Anleihen macht, ist offensichtlich. Kastalien hat ja viele Ähnlichkeiten mit Platons Staat, eine von Gelehrten streng hierarchisch geleitete Republik. Er selbst erwähnt es im Buch. Der Unterschied sei, dass die Elite damals durch die Aristokratie, in Kastalien aber durch Erziehung gebildet würde.

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      • Ich weiß, liebe Gerda, es waren die älteren Herren, die den Jungen unter die Arme griffen, sie betreuten und ins Erwachsenenleben einführten.
        Ein Schelm, der Böses dabei denkt

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      • Avatar von gkazakou gkazakou sagt:

        Ich wollte nur dran erinnern, dass erlaubte Sitten und Gebräuche sich ändern, aber die Gelüste mancher älterer Herren womöglich nicht.

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      • Diese psychologische Deutung ist durchaus verständlich. Vor allem da es mit Plinio nicht so weit gekommen ist, andere Emotionen sich dazwischen schieben, und eine Entfremdung stattgefunden hat. Ich lese es dennoch in Gänze überhaupt nicht sexuell aufgeladen – der Eros hier sublimiert sich in einem Schaffens- und Umschaffungsprozess, also im Versuch, eine poetische Seite in sich zu entwickeln. Ich denke, hier wird im Grunde ein geistiges Gebiet beschritten, ein sehr persönliches, das durchschritten wird, nämlich ein Glaube, ein Kunstglaube, der Glaube, dass Kunst, Kunstfertigkeit selbstgenügsam ist, was aber am Ende ja nicht ist, denn von irgendwas müssen die Künstler essen und trinken, und wie du sagst, irgendwoher müssen die Künstler kommen, geboren werden … also ist das Abstrakte, Luftleere irgendwann als Wolkenkuckucksheim durchschaubar, und just darauf bewegt sich Josef Knecht hin, raus aus einem Kunstglauben hinein in die Welt, und da stirbt genau dieser Geist, dieser sich selbst blendende, Bauchnabelschau-Geist, er stirbt dort, wo die Physis, das Körpergefühl, das Materielle beginnt, der Junge, der sich nicht schämt, der sich spürt, sich aufbäumt und einen Frühlingsruf aus sich heraus posaunt. Ja, es lässt sich als nicht eingestandene Knabenliebe verstehen, aber vor allem als Weckruf, dass er als psychosexuelles Wesen überhaupt erst existiert. Der Geist stirbt und mit ihm eine vollendete Verblendung, das war’s und danach schrieb Hesse auch keine Romane mehr :O … es lässt sich sehr viel aus dem Buch heraus holen, denke ich, insbesondere über die Parallele Kunst/Religion/Klerus.

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      • Avatar von gkazakou gkazakou sagt:

        Von Herzen Dank, lieber Alexander. Ich bin sehr froh, dass ich mich getraut habe, meine Reaktion auf das Buch in inzwischen mehreren Anläufen hier im Blog geschildert zu haben, denn so habe ich eine reiche Resonnanz bekommen, über die ich nun weiter nachdenken kann. Ich bin mit dem Roman auch noch nicht wirklich fertig, werde mich noch öfter damit beschäftigen. O ja, „es lässt sich sehr viel aus dem Buch heraus holen“ – denke ich auch.

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  8. Das ist interessant. Ich habe in meiner Jugend – natürlich – den Siddharta, den Steppenwolf, auch die Märchen und so dies und das mit großem Genuss gelesen. Doch schon damals sagte mir ein Freund, dass das Glasperlenspiel ein Rohrkrepierer sei, der auf den letzten Seiten alles widerlege, das vorher aufgebaut worden war. Vielleicht muss ich es selbst mal lesen, um mir ein Bild zu machen.
    Interessant finde ich die Parallele zu dem ähnlich „spirituellen“ und von mir hoch (wirklich HOCH!) verehrten Michael Ende. Auch der hatte ein Problem mit Frauen. In seinen Geschichten tauchen sie nur auf als Mütter, Heilige oder Hexen. Eine reife, selbstbestimmte Frau als sexuelles Wesen hat er kein einziges Mal geschrieben.
    Aber er soll oft fremdgegangen sein . . .

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    • Avatar von gkazakou gkazakou sagt:

      Danke für deinen Kommentar. Es ist interessant für mich zu lesen, dass viele deiner Generation die Romane von Hesse in der Jugend verschlungen haben. Soll man ihn als Jugendbuch-Autor bezeichnen? Als Autor für Fragestellungen nach dem „Lebenssinn“, die sich in der Pubertät auftun?
      Michael Ende ist für mich vor allem ein großartiger Kinderbuch-Autor. Mit seiner „Momo“ hat er ein Mädchen geschaffen. das geradezu ein Gegenbild des dünnhäutigen Knaben Joseph im Glasperlenspiel ist und das ich sehr liebe. Die „grauen Männer“ sind die, die sich von dieser Jugend nähren, so wie sich die „Hierarchie“ Kastaliens von den Lebenskräften nährt, die ihr aus der „Welt“ zukommen. Im Unterschied zu Ende, der die „grauen Männer“ als bösartige Gefahr beschreibt, umgibt Hesse die Hierarchie (Orden) mit Glanz und Glorie.
      Insofern würde ich die beiden Autoren nicht vergleichen. (Ich habe auch die „Unendliche Geschichte“ gelesen, aber sie hat sich mir nicht eingeprägt. Für mich ist Ende der Autor von Momo)

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      • Im Unterschied zu Hesse wertet Ende „das Weibliche“ (Empfangende, Duldende, Yang) trotz seiner Probleme mit echten Frauen ganz eindeutig positiv. Das zeigt sich am Deutlichsten in Momo, der großen Zuhörerin, die, wie Ende selbst einmal schrieb, im ganzen Roman nichts tut, außer eine Tür zu- und dann wieder aufzumachen.

        Wie Du weißt, hat mich die Unendliche Geschichte seit Jahrzehnten fasziniert. Ich halte sie auch nicht für ein Kinder- oder Jugendbuch, wenngleich man sie in dem Alter zum ersten Mal auf der Handlungsebene genießen kann. Später entdeckt man die anderen Ebenen.

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      • Avatar von gkazakou gkazakou sagt:

        Danke auch für dies. Ich sehe Momo durchaus nicht als „Duldende, Empfangende“, sie ist zwar nicht tätig im herkömmlichen Sinne, aber keineswegs passiv. Ihre Art zuzuhören und sich zu den Ereignissen zu stellen, hat etwas sehr Aktives, es verändert den Gang der Geschichte. Auch das Zu- und Aufmachen einer Tür zur rechten Zeit kann den Lauf der Dinge entscheidend beeinflussen.
        Die Endlose Geschichte müsste ich erneut lesen, um etwas darüber zu sagen.
        Beide Bücher gefielen meinem kleinen Sohn, dem ich sie vorlas, sehr. Moma aber liebte er (und ich auch), und so las ich es ihm mehrmals vor.

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  9. Avatar von m.mama m.mama sagt:

    Ich habe das Buch vor ca. 30 Jahren gelesen und für mich war es eines der großartigsten von Hesse 🙂 . Gerade diese Trennung zwischen Elfenbeinturmwelt und dem Rest fand ich spannend, weil ich mir mit anderen Menschen immer schwer tat und selten das Gefühl hatte irgendwo dazuzugehören. Außensenseiter scheitern schnell einmal, wenn sie ihre Komfortzone (oder Isolation) verlassen. Und ich habe Jahrzehnte gebraucht, um eine Körper-Geist Einheit des Selbst zu empfinden, daher kann ich Hesse nicht böse sein, die Geschichte derart entwickelt zu haben. ABER: Dein Kommentar macht mich sehr neugierig, was ich heute über den Roman denken würde, wenn ich ihn noch einmal lese. Ich fürchte nur, ich wäre enttäuscht, das Entzücken meiner Jugend würde sich sicher nicht mehr einstellen. Ich würde das Buch sicher mit ganz anderen Augen sehen. Deine Anmerkungen und der Zorn klingen nachvollziehbar. Ob ich mich noch einmal drüber traue über das Glasperlenspiel? 🤔

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  10. Avatar von rolfnoe rolfnoe sagt:

    Ich habe das Buch, wenn ich mich recht entsinne, nie zu Ende gelesen. War mir (und das will was heißen) irgendwie zu verkopft, zu konstruiert. Und dass er dabei vergessen hat, dem Weiblichen den ihm gebührenden Teil zukommen zu lassen, nimmt dem Buch die überzeitliche Gültigkeit und bestätigt meine Unlust, mich damit zu beschäftigen.

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    • Avatar von gkazakou gkazakou sagt:

      Es braucht schon einen Überschuss an Zeit (über den ich jetzt verfüge), um das Buch bis zu Ende zu lesen. Wie ich schrieb, kam bei mir Hoffnung auf, als ich das „Rundschreiben“ las, das Joseph Knecht verfasste. Vielleicht doch noch eine Wende ins wirkliche Leben? Aber nein. Im Grunde ist der dann folgende Teil nur noch Kitsch und schlimme gesellschaftliche Dummheit. Ein Ausmacher.

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  11. Avatar von wildgans wildgans sagt:

    Frauenbelange nur unter ferner liefen und unter Gedöns, er hat wohl dazu beigetragen…so betrachtet las ich Hesse noch nie! Es kommen neue Gedanken auf …

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  12. Auf die Idee, Ende und Hesse miteinander zu vergleichen, wäre ich nie gekommen

    Gegensätzlicher können schreibende Menschen doch gar nicht sein, aber ich lese hier mit grossem interesse. Ende schrieb mitunter so wundervoll kindlich, z.B. den wunschpunsch 😉, was Hesse wohl nie in den Sinn hätte kommen können.

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  13. Avatar von Leela Leela sagt:

    14 war ich vielleicht, als ich Siddharta las und es hat mich begeistert. Was drinnestand habe ich vergessen. Den Steppenwolf fing ich nur zu lesen an. Warum er mir nicht gefiel habe ich auch vergessen. Das wars dann mit Hesse…

    Mal sehn, ob dieser Kommentar wieder wie mein letzter zur Transparenz im Niemandsland versinkt…

    Leela

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  14. Liebe Gerda,
    meine Mutter war und ist eine große Hesseverehrerin und hat mir die Lektüre immer sehr nahe gelegt auch durch Geschenke.
    Und nicht hat genau das selbe wie dich gestört, dass Frauen als normale Menschen in den Büchern nicht vorkommen, sie sind Verführung, Göttin, Ablenkung vom wahren Weg, klein und nett, aber nie normale Menschen.
    Mir ist das später noch bei mehr Autoren begegnet, aber Hesse war halt der erste und da hat es mich am meisten aufgeregt.
    Regelrecht gestritten habe ich mit meiner Mutter über das Ende ihres erklärten Lieblingsbucs Damian, das ist das Ende der Suche nach Erfüllung und wahrem Lebensinn nicht das Ertrinken in einem Gletschersee, sondern der begeisterte Zug in der Ersten Weltkrieg.

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    • Avatar von gkazakou gkazakou sagt:

      danke dir für deine Sicht und Erfahrung mit Hesse. Dieser Tage dachte ich vergleichsweise an Thomas Manns Zauberberg, bei dem der Kriegsausbruch ja ebenfalls die „Erlösung“ bringt – freilich aus der feingeistigen Dekadenz eines Lungensanatoriums. Dies Buch las ich mit 17, und es rettete mich, denn ich wurde wenig später mit einer Tbc diagnostiziert und sollte in ein Sanatorium. Aufgerüttelt durch die Lektüre, wehrte ich mich heftig dagegen. Ich war fast sicher, dass mich die Atmosphäre aufgesogen hätte,und ich würde für immer dort bleiben müssen.

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  15. Die Interessen der älteren Herren sind mir wohl bewußt, liebe Gerda.
    Ich gehöre zu denen, denen man nicht glaubte…

    Aber ich möchte zum Sanatorium etwas sagen. Vergiß den Zauberberg.
    Mein Vater, Jahrgang 1922, war mit einer Tuberkulose in den frühen 50er Jahren für 9 Monate in Arosa und kam wahrhaftig vollständig geheilt und gesund zurück.
    Er hatte ein erbsengroßes Loch in der Lunge, das sich durch die wundervoll reine Höhenluft und die richtige Medikation vollständig geschlossen hatte.

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