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Gott Merkur, gerade geboren und den Windeln entflohen,
ersinnt einen Weg, wie er dem größeren Bruder Apollon
den Rang ablaufen könnte trotz des leider vorhandenen
Rangunterschieds zwischen den Müttern der beiden.
Als erstes entführt er die goldenen Rinder, die dem Bruder gehören,
und treibt, um Verfolger zu täuschen, die Herde
rückwärtsgehend der Grotte zu, in der seine Windeln noch liegen.
Schlachtet auch gleich eines der heiligen Tiere, zerlegt es,
entfernt die Sehnen der Beine und legt sie beiseite
röstet sich dann einen Schenkel und isst ihn.
Alsdann fühlt er Lust auf fröhliche Weisen, gespielt auf der Lyra.
Doch freilich die Lyra ist damals noch gar nicht erfunden.
Klein Hermes erkennt gleich die Lösung, als eine Schildkröte den Weg kreuzt.
„Komm her, ich brauch deinen Panzer, die Lyra zu bauen“, so spricht er.
Die Schildkröte fleht: „Ach lass mich am Leben, du göttlicher Knabe
Ich möchte noch hundert Jahre und mehr am grünenden Gras mich erquicken.“
Doch Merkur hat Eile, er tötet die Arme und nimmt sich den Panzer
Drauf spannt er die Sehnen des Rinds und fertig ist schon die Leier.
Apoll ist erzürnt ob der fehlenden Rinder und stürzt in die Grotte.
„Ich wars nicht“, so wimmert das Kleinkind, „ich habe dir gar nichts gestohlen!
Doch weil ich dich traurig seh und dich lieb hab
So schenke ich dir meine Leier, die grad ich erfunden. Ich weiß schon
Du wirst dann später behaupten, du seiest der wahre Erfinder
Das will ich gern dir verzeihn, denn großzügiger bin ich als jeder.“
Apoll, verwirrt von den Reden des Kleinen, bestaunt die neue Erfindung
Nimmt in die Hand sie und beginnt sie zu spielen. Da kann er nicht anders
Als seinem Bruder verzeihn. Ich täte es gleichfalls, auch wenn die Erfindung
Den Tod zweier Wesen voraussetzt. Kultur ist oft tödlich.
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Mich trauert’s dennoch ob der schrulligen grasliebenden beschildeten Kröte – alles ist Geben und Nehmen, aber manch einer nimmt zu viel. Schade um die alt werden wollende Weise! Viele Grüße!
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das sehe ich wie du, lieber Alexander. Drum habe ich heute eine Art Fortsetzung geschrieben.
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Ja, Götter wissen vielleicht, was aus ihren Erfindungen wird, aber wir Menschen nicht – und verfehlen oft genug das rechte Maß, wie es mir scheint.
Wie immer bin ich begeistert von Versmaß und Dichtkunst. Vielen Dank!
Morgenkaffeegrüße ⛅🍁☕🍪👍
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Danke schön, liebe Christiane. Das Thema, das ich hier so oberflächlich angekratzt habe, ist tatsächlich riesig. Die gesamte zivilisatorische Menschheitsentwicklung ist ja ein Angriff auf die Natur, und hier das rechte Maß zu finden, ist das A und das O.
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Ich wollte mir nicht die Arbeit machen, das Versmaß zu bestimmen, aber es klingt auf jeden Fall hervorragend, getragen und würdig, obwohl der Inhalt gar nicht so würdevoll ist 🙂
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Danke, liebe Myriade. Die grieechischen Götter waren nicht besonders würdevoll, wie du weißt, aber das hinderte die Dichter nicht, in getragen-würdiger Weise über sie zu sprechen. 😉
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Dazu fallen mir einige moderne Parallelen ein 🙂
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Keine liebe und nette Geschichte, liebe Gerda. Der Mensch und seine Götter wissen scheinbar nicht um die Wichtigkeit des Friedens in der Welt, aber muß die so schön klingende Lyra, denn gewaltsam entstanden sein?
Aber es ist schon so, der Mensch ist ein grausames Ungeheuer. Es gibt viel mehr als hundettausende Beispiele dafür. Ich brauche nicht mal an Kriege zu denken. Ich denke im Moment an die fürchterlichen Tierversuche im Namen der Wissenschaft…
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Danke, Bruni, nein, lieb und nett waren die antiken Götter nicht, und auch die Menschen sind es bis heute nicht. Aber sie sind und waren erfindungsreich. Den Mythos ist so überliefert. Mich zwang er, mich mit der Idee zu befassen, ob womöglich sogar das Erhabendste – die Musik – aus Tod und Verderben geboren ist.
Auf Tierversuchen, die ich wie du verabscheuenswürdig finde, beruht unsere gesamte moderne Medizin, beruhen Medikamente und Impfung. Mein gebrochenes Verhältnis zur Schulmedizin hat auch damit zu tun.
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Ich verstehe, Gerda … Wir dürfen nicht quälen; es muß einfach auch anders gehen.
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ein toller Ausflug in die Geschichte der Götter, ich bin beeindruckt, auch wenn die Geschichte grausam ist. Die liebe Schildkröte töten für ein Musikinstrumment, furchtbar
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Der Panzer einer Schildkröte ist doch ein Wunderwerk.
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Ja, ist er.
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👁️
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Ja, auf jeden Fall! Er ist auch ein guter Klangkörper.
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Ein guter Klangkörper? Als Trommel?
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Nein, Gisela, sondern für Saiteninstrumente. Wie ich ja schrieb, wurde die Lyra zunächst aus einem Schildkkrötenpanzer für den Klangkörper und den Sehnen des Rinds für die Saiten geschaffen.
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Danke, Gerda!😊
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Gern!
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✨💥
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