Dora zum NeuntenZehnten: Wer ist die Schönste im ganzen Land?

„Welches meiner Geschenke hat dir heute am besten gefallen?“ fragt mich Dora. Hm, da muss ich erst mal nachdenken. Der Tag war so reich, und er ist ja noch nicht vorbei. Lassen sich die verschiedenen Freuden überhaupt vergleichen? Das herrliche Wetter, die liebenswürdigen Mönche im Kleinen Kloster, der leicht gesüßte Kaffee, den sie uns reichten, der Vortrag über alte Sitten und Gebräuche zur Sicherung  von Saat und Ernte, die Berge mit ihren Dörfern, die Gassen, die wir durchwanderten, die kleinen weißwolligen Hunde, der sonnige Hof voller Katzen, die Düfte der Kräuter, die Fahrt ans Meer, das Fischessen in der Taverne, die lebhafte Unterhaltung, der gekühlte Rosewein, den der Kellner uns so warm empfahl, die Gemeinschaft mit meinen Lieben, das kleine Mädchen mit den aufgebundenen Zöpfen, das Steine ins Meer warf, das warme Gefühl der Zusammengehörigkeit und Zugehörigkeit … All das lässt sich doch gar nicht untereinander vergleichen und schon gar nicht in eine Rangreihe bringen.   „Na?“ höre ich Dora in meine Gedanken hinein. „Hat es dir die Sprache verschlagen? Welches meiner Geschenke hat dir …?“

„Dieser blühende Strauch, der aus dem Asphalt herauswuchs!“ antworte ich. „?“ Dora scheint sich nicht zu erinnern. „Na, da im Dorf. Die Asphaltdecke der Straße war aufgerissen, und aus dem Riss hatten sich zwei kleine Büsche hervorgearbeitet. Noch sind sie keine Büsche, aber sie werden schon noch Büsche werden.“

„Ach, die meinst du?“ piepst Dora. „Klar erinnere ich mich. Aber ob das nun das Schönste war? Haben dir die anderen Sachen nicht gefallen? Wozu habe ich mich so angestrengt?“  – „Natürlich haben sie mir alle gefallen, liebe Dora! Alle haben mir am besten gefallen!“ – „Das sagst du jetzt nur, um mich….“ – „Hör auf, Dora! sonst erzähle ich dir eine Geschichte aus einem Buch, das Anleitung zum Unglücklichsein heißt.“ – „He? Erzähl mal, das interessiert mich. Ich wusste gar nicht, dass man Unglücklichsein lernen kann!“ –

„Na gut. Setz dich und hör zu. Da gab es mal eine jüdische Mutter, die liebte ihren erwachsenen Sohn sehr. Eines Tages, als er sie besuchte, schenkte sie ihm ein Hemd und einen Pullover. Er schaute sich das Hemd an und lobte es. ‚Der Pullover gefällt dir wohl nicht?‘ fragt ängstlich die Mama. ‚Klar gefällt er mir, er ist sehr schön‘, antwortet der Sohn. ‚Das sagst du jetzt nur, um mich nicht zu kränken‘, jammert die Mutter. ‚Blödsinn!‘ antwortet der Sohn, und nimmt nun den Pullover in die Hand, um ihn zu loben. ‚Lass man‘ sagt die Mama. ‚Ich seh doch, dass er dir nicht gefällt.‘ Das geht immer so weiter, bis der Sohn Pullover und Hemd hinschmeißt und brüllt: ‚Du hast völlig recht, beide sind potthässlich!‘ Er stürmt aus der Wohnung und knallt die Tür hinter sich zu. Die Mama aber sitzt zu Hause und weint.“

„Blöd“, findet Dora. „Naja“, gebe ich zu bedenken. „Blöd ist es ja vielleicht schon. Aber eben grad hast du dasselbe getan wie diese Mutter. Du wolltest wissen, welches deiner Geschenke mir am besten gefällt. Kaum lob ich die hübschen tapferen Pflanzen, bist du sauer, weil ich nicht die Sonne, die lieben Mönche, die Fische oder sonst was lobe, die es ja ebenfalls verdient haben.“ – „Sauer war ich nicht, ich wollte bloß wissen ….“ – „Schon gut, liebe Dora. Ich weiß, was du wolltest. Du wolltest vergleichen, wolltest eine Rangreihe aufstellen. Und genau das ist eine Methode, um uns Menschen unglücklich zu machen. Denn glücklich ist immer nur der, der auf dem höchsten Platz steht. Alle anderen sind unglücklich. Außer sie sind weise und vergleichen sich nicht.  Solche Weisen aber sind höchst seltene Exemplare unter den Menschen.“

Dora wirkt nachdenklich. Schließlich murmelt sie: „Diese kleinen Büsche waren wirklich sehr nett.“

 

Über gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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9 Antworten zu Dora zum NeuntenZehnten: Wer ist die Schönste im ganzen Land?

  1. Eva Farniente schreibt:

    So hat nicht nur Dora eine Lektion gelernt, sondern ich gleich mit. Danke dir, liebe Gerda.

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  2. Werner Kastens schreibt:

    Und so, scheint mir, ist es auch mit dem Notensystem in unseren Schulen bestellt. Mehr Unglückliche als Glückliche. Und das unter staatlicher Obrigkeit.
    Dein Beitrag gibt sehr zu denken, liebe Gerda!

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  3. Alexander Carmele schreibt:

    Ich mag diesen Blog wirklich sehr! Danke Gerda. So ist’s. Es ist selbstredend nebst diesem noch manchmal komplizierter. Vergleichen kann ja auch appetitanregend und neugiererweckend und -steigernd wirken, aber nur in Maßen, in fröhlicher Distanz, in tastend wohlwollende Abenteuerfreude, ein Hyperion zwischen Sonne und Mond, von beiden trunken, im Gleichen wie Verschiedenem. Ich hab’s nicht gut ausgedrückt. Einen tollen Wochenstart wünsche ich euch! Ganz ohne Rangordnung 😀

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  4. Myriade schreibt:

    Ich kenne die Watzlawick-Geschichte mit einem roten und einem blauen Hemd, was ja in der Aussage keinen Unterschied macht und ohne den Ausbruch des Sohnes. Warum es sich um eine jüdische Mutter handeln sein, leuchtet mir aber nicht ganz ein

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    • Gerda schreibt:

      Das Kapitel heißt Jewish mother, so meine Erinnerung. Er spielt da wohl auf die besonders innige und zugleich schwierige Beziehung zwischen Mutter und Sohn in jüdischen Familien an – ob aus eigener Erfahrung oder aus seiner Praxis mit Klienten weiß ich nicht.

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      • Myriade schreibt:

        Aha, daran kann ich mich gar nicht erinnern und ich bin nicht zuhause, wo ich nachsehen könnte. Heute abend …
        Die jüdische Mame ist ja tatsächlich berüchtigt … 🙂

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  5. kopfundgestalt schreibt:

    Denn glücklich ist immer nur der, der auf dem höchsten Platz steht.
    Nein, denn der hat Angst, seinen Platz zu verlieren

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  6. Sich freuen an kleinen Dingen scheint eine Kunst zu sein, die nicht jeder beherrscht…

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