Damit wir nicht ganz aus der Übung kommen, hat Christiane uns für die lange Sommerpause freundlicherweise eine Extra-Schreibübung vorbereitet.
Wie waren doch gleich die Regeln?
LÄNGE: egal. Länger als eine Etüde. Gerne deutlich länger! 😀
ORT UND ZEIT: egal.
ABER: Es gibt zwei Bedingungen.
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Ihr sucht euch aus der folgenden Liste (mindestens) 7 aus den 12 großartigen Wörtern aus und baut die in eure Geschichte ein. Ich steh auf so was, wem es noch nicht aufgefallen sein sollte.
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Euer Text muss folgenden Satz beinhalten:
Wie wenig wir einander kennen.
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Deutschland funktioniert. Ein Bericht von meinem letzten Tag in Deutschland.
Am Sonntag mache ich mich, den Rucksack geschultert, in K auf die Socken. Immer mich im Schatten von Bäumen haltend, erreiche ich, ohne zu hetzen und zu schwitzen, den Fernbahnhof. Die Regionalbahn fährt pünktlich ein, ist sauber und fast leer, und für 9 E zu reisen ist ja fast geschenkt. Auch das zweimalige Umsteigen klappt vorzüglich, und so komme ich ausgeruht in W an. Nun gilt es noch meine Herberge zu finden, die ich in der Nähe des Flughafens für eine Übernachtung gebucht habe. Ich werde nämlich am nächsten Tag in aller Herrgottsfrühe losrennen müssen, mein Flug geht schon um 6. Um die frühe Zeit gehen die billigen Flüge in die Türkei und zu den griechischen Provinzflughäfen ab. Gewiss wird es viele Reisende geben, die die Sommerpause nutzen, um in ihre Heimat zu fliegen. Also besser mit Schlangen an der Sicherheitskontrolle rechnen.
Ich finde die Adresse auf Anhieb. Man erreicht das Zimmer zwar etwas abenteuerlich über zwei enge Treppen zum Dachgeschoss, doch das macht mir nichts aus. Mir gefällt es mit seinen großen ins Dach eingelassenen Klappfenstern. Es ist sauber und geräumig. Es gibt sogar gekühltes Bier, Gläser und Knabberzeug. Den Couchtisch mit dem hübschen Tischtuch schmückt ein falschsilberner Kerzenständer. Den Fernseher schalte ich nicht an, denn sicher gibt es Nachrichten aus der Ukraine, wonach mir wirklich nicht der Sinn steht.
Leider wird es mit dem Schlaf dann doch nichts. (Hier könnte ich nun die Geschichte kippen lassen: aus dem glatten Verlauf der Reise wird ein Alptraum. Doch nein!)
Da ich nicht schlafen kann, stelle ich mich auf die Zehenspitzen und blicke aus dem Klappfenster hinüber zum roten Blinken des Towers. Ich befinde mich allein im Nirgendwo über einer mir unbekannten Stadt und fühle mich dennoch sicher und geborgen. Ich fühle Verbundenheit mit den Menschen, die ich gerade verließ und mit denen, die ich morgen wieder umarmen werde. Zwischen diesen Pfeilern stehe auf dem Seil und balanziere mich aus. „Wie wenig wir einander doch kennen“, denke ich, „aber ich habe Vertrauen. Ich bin getragen. Nichts Böses kann mir geschehen.“
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Uff! Sieben Wörter, und der Satz ist auch untergebracht. Stolz lese ich Dora meine Geschichte vor. Die verzieht ihr Gesicht. „Puh! Ist die lame!“ – „Aber so war es doch!“ verteidige ich mich. – „Mag sein, dass es so war!“, gibt sie zur Antwort. „Aber wen interessieren schon Geschichten, in denen nix passiert? Konntest du nicht jedenfalls die Treppe runterfallen, den Flug verpassen, überfallen werden, Alpträume haben, bestohlen werden, knapp einem Feuer entronnen sein? Oder meinetwegen, wenn du Katastrophen nicht magst, hättest du dir ja einen Galan anlachen können, der mit dir ins Zimmer hochsteigt, um mit dir einen Snack zunehmen… War jedenfalls Eis im Kühlschrank?“
Und wie um mich zu veräppeln, macht Dora ihre Latüchte zur Gitarre und singt und tanzt und reimt wie ein Milonga*-Troubador:
O lala und chachacha
ich bringe Eis, wem es gefällt
der kann es haben ohne Geld!
„Halt ein, Dora!“ protestiere ich. „Du kannst doch nicht irgendwelchen Unsinn zusammenreimen! Du musst die vorgegebenen Wörter benutzen!“ – „Ach was!“, kräht Dora. „Jetzt ist Milonga-Sommerpause! Aber wenn du willst, reime ich dir morgen was mit Kullerauge und Flohzirkus zusammen! Versprochen!“
*Wikipedia: Laut José Gobello… handelt es sich bei der Lunfardo-Vokabel milonga um einen Afronegrismus aus der südwestafrikanischen Bantu-Sprache Kimbundu. Es ist der Plural von mulonga, mit der Bedeutung „Wörter“, „Gerede“. Ganz in diesem ursprünglichen Sinne bedeutet milongas (pluralisch gebraucht) im heutigen Umgangsspanisch noch „Lug und Trug“.
Den ganzen Tag – und auch auf Reisen – eine Dora um mich zu haben, na, da hätte ich ganz schön meinen Schaff, wie sie hier in Hessen sagen.
Ich bewundere Deine Geduld, wie Du ihr die Welt erklärst.
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Sie erklärt mir ja auch die Welt, lieber Werner. Sie spiegelt manche Fazetten, die ich gern übersehe. Hier ist es die Neigung von Medien, nur Dramen und Katastrophen für interessant zu halten, während doch das Leben, zum Glück, großenteils in ruhigen Bahnen verläuft.
Was hatte ich für Schauergeschichten über die schlimmen Verspätungen der Flüge, das Chaos auf den Flughäfen, die übervollen Regionalbahnen in Folge des 9E-Tickets, die unerträgliche Hitze, die wachsende Kriminalität, die drohenden Unruhen und ich weiß nicht noch was gehört bzw gelesen. Am besten: nicht verreisen, verängstigt zu Hause sitzen bleiben und CO2 sparen!
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Der Stil der sog. social media greift halt auch in den „seriösen“ Medien um sich und schafft Verunsicherungen durch Schwarz/Weiss-Malerei und ständig neue Horrorszenarien, die herauf gezogen werden.
Aber sich einschliessen ist auch keine Alternative.
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Gerda, ich habe Deine friedliche Geschichte so gern gelesen, wollte daran anknüpfend noch etwas sagen. Doch dann kam Dora mit ihrer Sensationslust und zuletzt dies Foto. Da bleiben mir erst einmal alle Worte im Halse stecken. Aber die gegebenen Wörter sind alle untergebracht auf diese Weise.
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Sensationslust, ja. Da spiegelt sie, ein Kind der Zeit, wider, was ihr aus den Medien entgegenkommt. Ich kann sie deshalb nicht tadeln.
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Nein, nicht tadeln. Aber Du läßt Dich mit hineinziehen, machst da mit. Dies Totengerippe mit Gitarre neben dem Eisbecher in Großaufnahme ist so gruselig. Gab es das wirklich bei uns in einem deutschen Städtchen, oder hast Du es hineinprojiziert?
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Ich freue mich, dass kein Drama nötig war, um gut nach Hause zu kommen, liebe Gerda, und finde deinen Sidekick anstrengend, ohne ohne ihr damit böse zu wollen, sie ist halt so.
Aber was wird das wohl für eine Adventüde werden? 🤔😉👍
Morgengrüße noch ohne Kaffee ⛅🥤🧊🌼👍
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Nicht Adventüde, ein zweites Intermezzo, liebe Christiane. Schön, dass du ihr nicht böse bist. Sie spiegelt ja nur, wie ich schon anderswo erwähnte, den Geist der Zeit. Und sie tut es in harmloser, manchmal übermütiger Weise wie ein Kind halt. .
Das Bild habe ich übrigens zusammengesetzt aus einer Szene in Mexiko City und einem riesigen Kunsteisbecher in Frankfurt. Surreale Versatzstücke. Milonga bedeutet ja ursprünglich haltloses Gerede, Lug und Trug (siehe Anmerkung) – und das wollte ich illlustrieren. .
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Liebe Gerda, das war dein zweites Intermezzo? Dann reich mir doch bitte noch mal den Link vom ersten nach, ich finde ihn nicht … 😒
Gemeint habe ich allerdings, dass ich mich frage, ob Dora auch durch deine Adventüde geistern wird 😉
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Danke für deine Aufmerksamkeit, liebe Christiane. Es gibt bisher kein zweites Intermezzo. Dora hat großspurig angekündigt, aber ihr Versprechen noch nicht eingelöst, eine zweite Etüde zu schreiben mit den Wörtern Kullerauge etc. .
Was meinst du mit „durch die Adventüden geistern“? Möchtest du, dass sie sich da raus hält?
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Intermezzo: Dann habe ich dich falsch verstanden, gut, ich bin froh, dass ich nichts übersehen habe.
Adventüden: Nein, das ist allein deine Entscheidung, aber ich wollte ganz dezent *hüstel* daran erinnern, dass du mir eine Adventüde zugesagt hast. Es sind nur noch knapp zwei Wochen Zeit, sorry, dass ich an der einen oder anderen Stelle langsam anfange zu drängeln … 😉
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Pingback: 7 aus 12 | Etüdensommerpausenintermezzo II-2022 | Irgendwas ist immer
Ein großer Kontrast zwischen deinem und Doras Text. Aber wie sollte es auch anders sein – zwei ganz verschiedene Persönlichkeiten. Nicht verwundlicher, dass mir der deine mehr liegt. 🙂 Trotzdem schön von Dora zu lesen.
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Danke, Mitzi. Und ich dachte schon, mein Heile-Welt-Text wäre ein bisschen aus der Zeit gefallen. 😉
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Milonga, das ist interessant. Von Oskar Maria Graf ist überliefert, dass er, der sowieso Prügel bekam, wenn er las – arbeiten, nicht nutzlos Zeit verplempern! – erste selbsterfundene Geschichten zum Besten gab. Aber „das ist ja nur Lug und Trug“ war das ehrlich entsetzte Fazit!
Das ist es, was wir tun. Erschrecken die so ehrlichen Leut‘.
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Danke dir, besonders auch auf deinen Hinweis auf Oskar Maria Graf. Solche Erinnerungen tun manchmal not..
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Was für ein Text, liebe Gerda! Aber es sind ja auch soooo viele Wörter unterzubringen 🙂 Worte, der unterschiedlichsten Bedeutung…
Wie gut, daß Du gut wieder zuhause gelandet bist, liebe Gerda, und alles erledigen konntest, was Dir auf der Seele lag!
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Die Wörter fanden fast von allein ihren Platz, liebe Bruni. Nurr die Tischdecke sträubte sich ein bisschen.
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😊😉🙃
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