Die Wörter für die Textwochen 46/47 des Schreibjahres 2021 stiftete Heidi mit ihrem Blog Erinnerungswerkstatt.
Neulich musste ich für eine akademische Datenbank eine biographische Notiz schreiben. Zielsicher durchmaß ich das Museum meiner Lebens-Artefakte und landete vor einer seit langem nicht benutzten eisernen Tür. Mit etwas Nachdruck ließ sie sich öffnen. Ein paar Spinnweben fegte ich mir aus dem Gesicht, reckte mich hoch zu einem Regal links oben und fischte meine Magisterarbeit heraus.
Im Zwielicht des Kabuffs las ich den Titel des Buchs, das leicht modrig roch: „Zeitperspektive, Planungsverhalten und deferred gratification pattern – Ein Überbick über internationale Forschungsergebnisse“. Und versuchte mich zu erinnern. Aha, ja, damals, zwischen Schwangerschaft und Mutterschaft hatte ich es geschrieben. Gehetzt von Terminen. „(uns fehlt nichts!) Nur Zeit! wir wittern Gewitterwind, wir Volk. Nur eine kleine Ewigkeit…“*
Sie lag damals vor mir, die Zeit, nicht wahr? Ein Kind würde heranwachsen, die Karriere würde mitwachsen müssen, jetzt, denn ein Kind zu ernähren und aufzuziehen ist keine Kleinigkeit. Man würde planen müssen, oder? Carpe diem – das war eher etwas für später. Jetzt hieß es: „seine kurze Zeit benutzen“**. Deferred gratification – aufgeschobene Belohnung eben.
Hunderte „internationale Forschungsergebnisse“ zog ich zurate. Aber eigentlich wusste ich längst Bescheid, wie man sich die Belohnung für später aufspart und dennoch im Hier und Jetzt nicht zu kurz kommt. Als kleines Mädchen, in den Hungerjahren nach dem Krieg, hatte ich es herausgefunden: den kümmerlichen Brotaufstrich schob ich, bevor ich abbiss, mit den Zähnen vor mir her. So würde sich in der äußersten Ecke ein Häufchen bilden, das ich mitsamt dem letzten Brocken Brot genüsslich runterschlucken würde. Darauf freute ich mich schon. Da es aber eine Lücke zwischen meinen Schneidezähnen gab, kam ich auch schon unterwegs in den Genuss einer dünnen Spur Brotaufstrich, die sich meinen Sparmaßnahmen entzog. Und so war beidem gedient: dem Leben im Hier und Jetzt wie auch dem künftigen vollen Genuss der aufgesparten Belohnung.
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*Richard Fedor Leopold Dehmel (1863 – 1920), Der Arbeitsmann.
** Bertold Brecht: „Da muss man seine kurze Zeit benützen! Der Mensch ist kein Tier! … Denn wie man sich bettet, so liegt man“. Aus: Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny.
Schön war auch, sich einen Negerkuss so langsam durch die Zähne in den Mund zu ziehen!
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🙂 und ein tolles Bild…
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Danke, Leela.
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“ … den kümmerlichen Brotaufstrich schob ich, bevor ich abbiss, mit den Zähnen vor mir her. So würde sich in der äußersten Ecke ein Häufchen bilden, das ich mitsamt dem letzten Brocken Brot genüsslich runterschlucken würde …“
danke hierfür, gerda!
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🙂 Ich schrieb dies, behaglich im festen Haus am Kamin sitzend, während draußen der Donner rollte, und dachte bei mir: in diesem letzten Lebensbrocken hat sich viel Süße angesammelt. Im Alter ist Wohlstand sehr tröstlich, er federt die anderen Verluste ab..
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Ich habe immer gedacht, nur Dissertationen müssten veröffentlicht werden? 🤔
Interessant, die „deferred gratification“ auf die Brotscheibe runterzubrechen. Ich hoffe, sie hat sich auch später eingestellt.
(Ich erinnere mich, dass ich so was in meiner Kindheit auch praktiziert habe, aber warum kann ich nicht sagen. 😉)
Herzliche Abendgrüße 😁✨🍷🍪👍
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Stimmt schon, Christiane, Magisterarbeiten müssen nicht veröffentlicht werden. Für meine interessierte sich der Juventaverlag, wo dann auch meine Doktorarbeit veröffentlicht wurde (allerdings stark gekürzt, denn sie zählte 700 Seiten)
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Kann es sein, dass du gerne etwas, äh, ausufernd schreibst? Ich denke an deine „Schwanenwege“ … 😉👍
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Ja, Christiane. Es gibt eben viel zu sagen 😉 Aber für die Etüden zähle ich brav die Wörter.
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🙂 *schmunzel*
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Die Sache mit dem Brotaufstrich passt auch noch so gut zu den Kriegsgeschichten und Traumata …
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oder sagen wir lieber: in die Zeit des Darbens. es gab wenig zu essen, das war unangenehm, aber nicht wirklich traumatisch.
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Ich sehe Dich als kleines Mädchen vor mir, Gerda, wie Du den Brotaufstrich mit den Zähnen vor Dir her schiebst! Ein sehr starkes Bild hast Du da beschrieben.
Übrigens habe ich das auch praktiziert – wenn auch nicht aus einem Mangel heraus. Das Beste für den Schluss aufheben und dann den süßen Geschmack noch lange in Mund und Gedächtnis behalten.
Liebe Grüße
Ines
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Ganz lieben Dank, Ines. Auch Christiane schreibt, sie habe es ähnlich gemacht. Es scheint ein tieferes kindliches Bedürfnis darin zu liegen. Es kommt mir vor wie der Gutenachtkuss und vielleicht sogar eine Extra-Umarmung durch die Mutter, wenn man vor den anderen schlafen gehen musste. Denn auch daran erinnere ich mich: wie ich schmerzlich auf den versprochenen Gutenachtkuss wartete, aber meine Mutter vergaß es bisweilen, ins Gespräch mit den Großen vertieft. Dann war ich todtraurig und schlief weinend ein. Das Beste des Tages wurde mir genommen.
Warum ich diese Geschichte erzählt habe, hat aber noch einen anderen Grund: Die biographische Notiz verlangt von dir, dich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Und was gilt als das Wesentliche? Die Form (der errungene Titel), nicht der Inhalt.(die Einbettung in die Lebensgeschichte, die Empfindungen, die echte Erinnerungen sind).
Einen schönen Tag wünsche ich dir! Gerda
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Ein hoch interessanter Text von Dir, liebe Gerda, und dann das Bild, ganz wundervoll!
Ich erinnere mich gut, wie dünn und sparsam die Marmelade aufgetragen wurde und manchmal tue ich es heute noch. Irgenwie schmeckt es doppelt gut, weil man den Genuß nicht sofort spürt, aber schon erahnt … die Vorfreude wird gedehnt 🙂
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Genau! man spart sich was ab, um die Vorfreude zu steigern!
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