Maries Schnipsel (2a): Das Europäische Projekt fortgesetzt (Wahltag)

Im Rostbereich der Fast-Vergessenen begegneten sich gestern die beiden bemerkenswertesten Helden der europäischen Literatur. Zu wenige Menschen würdigen den entschlossenen Widerstand, den sie gegen das zu ihrer Zeit herrschende „System“  leisten. Der eine verteidigt hartnäckig die Werte einer Epoche, die versinkt. Hier kämpft er grad gegen die sprichwörtlichen Windmühlenflügel.

Und der andere? Er inspirierte mich schon mit 12 zu meinem ersten bebilderten Reim-Epos…

Ulenspiegel, norddeutsch wie ich selbst, vereint in seinem Namen gleich zwei altgriechische Symbole, die in die europäische Tradition übernommen wurden: Spiegel und Eule. Dem anderen den Spiegel vorhalten, oder wie Till, ihn wörtlich nehmen -, das sind bis heute Methoden der Selbsterkenntnis. Was ist Schein, was Sein? Γνῶθι σαυτόν ! Erkenne dich selbst!

Die Eule – nun, da brauche ich nicht viele Worte zu verlieren. Oder doch? Die Bedeutung der Eule verschob sich ja seit der Antike. Im Mittelalter gehörte sie zu den teuflichen Nachtwesen, Hexen wurden mit Eule und schwarzem Kater abgebildet. Also spiegelte der mittelalterliche Till seinen Zeitgenossen wohl nicht nur Weisheit, sondern allerlei finsteren Gedankenspuk zurück. Und er selbst war wohl auch nicht der reine Tor.

Wo sich die beiden Helden getroffen haben könnten (außer im Reich des Geistes) – auch dazu gibt es historische Hinweise. Denn seit des belgischen Romanciers Charles de Coster berühmter Eulenspiegel-Fassung des 16. Jahrhunderts „Die Legende und die heldenhaften, fröhlichen und ruhmreichen Abenteuer von Ulenspiegel und Lamme Goedzak“  ist Till ein Vorkämpfer des niederländischen Freiheitskampfes gegen Spanien. Und wenn sie sich nicht in Flandern trafen, so gäbe es doch viele weitere Möglichkeiten, denn Till war ein Rumtreiber, der fast den gesamten europäischen Kontinent unsicher machte.

Und heute? Wo sind sie heute, um edle Tugenden zu verteidigen und den Mitmenschen den Spiegel vorzuhalten? Werden sie etwa nicht mehr gebraucht? Ich bitte euch! Sie sind unsterblich, und zwar zu Recht! Und so hole ich sie aus dem Rostbereich des Vergessens hervor und versetze sie an die frische Luft.

Kommt hervor, ihr beiden unsterblichen Narren! Der eine halte uns (und unsere Volksvertreter) den Spiegel vor und nehme uns (und sie) beim Wort, der andere lehre uns (und sie), die Werte der Nächstenliebe und Solidarität zu verteidigen. So kann, vielleicht, das europäische Projekt gedeihen.

Till und Don in Zwergengestalt. Bleistiftzeichnung

Über gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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11 Antworten zu Maries Schnipsel (2a): Das Europäische Projekt fortgesetzt (Wahltag)

  1. Mitzi Irsaj schreibt:

    Die beiden gehören unbedingt an die frische Luft. Beeindruckend was du mit zwölf Jahren so schön und detaillierter geschaffen hast. Und toll, dass du es noch hast.

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  2. Peter Klopp schreibt:

    Es ist erstaunlich, wie kreativ man mit einfachen Mitteln, mit Papierschnipseln, eine neue Welt der Kunst schaffen kann. Ich bin beeindruckt.

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    • gkazakou schreibt:

      Das freut mich sehr, Peter. Genau darin besteht ja meine Absicht: zu zeigen, dass man aus fast nichts vieles machen kann. Ich begann mit dieser Schnipseltechnik, als es in Griechenland ökonomisch eng wurde.

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  3. wildgans schreibt:

    Marie wird staunen. Nicht nur sie.
    Gruß von Sonja

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  4. die Werte der Nächstenliebe und Solidarität – tja, liebe Gerda, sie fehlen zu oft und da, wo die guten Vorsätze reiften, da kommt ein Unwetter und zerstört, was mühselig gedeihen wollte.
    Den Till, den Du 12jährig schon wieder hast leben lassen, den hast Du doch schonmal gezeigt, oder irre ich mich jetzt? Till Eugenspiegel und den Ritter mit der gar nicht so traurigen Gestalt mochte ich immer sehr. Jeder der beiden hat eine Form gefunden, mit der er seine Meinung kundtut, wobei es der Till vielleicht verständlicher macht?

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    • gkazakou schreibt:

      Das hast du richtig in Erinnerung, Bruni. Ich zeige immer mal wieder früher gepostete Sachen. Für viele ist es ja neu. Ob der Till sich besser verständlich macht? Vielleicht den Deutschen, denn er ist ja ein deutscher Geist. Den Spaniern hingegen….
      Wegen der unterschiedlichen Ausdrucks- und Denkweisen, die sich auf unserem schönen Kontinent entwickelt haben, nenne ich es ein „europäisches Projekt“-

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