Meine zweite Etüde mit Ludwig Zeidlers Wortspende: Sonnenbrille, haltlos, massieren.
Schreibeinladung für die Textwochen 14.15.21 | Wortspende von Ludwig Zeidler und Irgendwas ist immer
Sie kam mit dem Schwarzmond. Kaum erkannte ich sie. Sie war selbst schwarz wie die Nacht, und obgleich der Tag noch fern war, trug sie eine Sonnenbrille und einen Sonnenhut der Art, die man Kulihüte* nennt. Und sie trug einen Mund-Nasenschutz. Ist das wirklich meine Will.ie? fragte ich mich bestürzt.
Als das Licht der Lampe sie traf, bemerkte ich, dass sie sich zum Zwitter gewandelt hatte: ein großer weißer Busen auf der einen Seite, eine schmale Männerbrust auf der anderen. Aber ihr Herz saß immer noch auf dem rechten Fleck – das beruhigte mich ein wenig
Trotz ihrer Maskerade und ihrer aufrechten Haltung spürte ich, dass sie erschöpft war. Müde. Fertig. Was war nur mit ihr geschehen? Wehmütig erinnerte ich mich an den neugeborenen Will.i, an seine Neugierde und sein schönes Draufgängertum …
„Weißt du noch“, sage ich nun zu Will.ie, die sich ihres outfits entledigt und auf dem Sofa ausgestreckt hat, „wie du auf dem Längengrad kurz mal nach Afrika gerutscht bist, zur African Lady, und dort schwarz wurdest? Und weiter nach Japan, wo du die hübsche Shin’nen trafst und sie heiraten wolltest?“
Während ich spreche, massiere ich ihr vorsichtig die verspannten Schultern. „Erinnerst du dich, wie du als Rothaut aus den Staaten zurückkamst und mit Max schmustest? Katzenpflegerin wolltest du werden.“
„Wo ist Max?“ Das ist tatsächlich ihr erstes Wort. „Max hat sich seit Tagen nicht blicken lassen“, sage ich so gleichmütig wie möglich. „Aber vielleicht kommt er ja, jetzt, wo du wieder da bist.“
Da fängt Will.ies Körper an zu zucken und zu beben. Es schüttelt sie förmlich, und sie beginnt haltlos zu weinen. „Ja, weine nur, weine“, sage ich und nehme sie in den Arm. „Weine nur, mein Lieb. Und morgen erzählst du mir, wenn du magst, wo du warst und was deine Augen gesehen haben.“
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O weh, Gerda, o weh, ich fürchte Schlimmes. Ich hoffe, wenigstens Max kommt wieder vorbei, Katzen bekommen das ja mit … 😥😺
Abendgrüße, dennoch 😏🍷🥨👍
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Danke, Christiane. Ich hoffe es auch. Aber Max ist tatsächlich seit ein paar Tagen verschwunden und ich mache mir Sorgen. Dafür besucht uns nun die scheue Kätzin, mit der er befreundet war. Aber die lässt sich nicht anfassen.
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Gibt es eigentlich eine Kunstrichtung, in die deine Schnipselkunstwerke einzuordnen wären? Du bringst es darin wirklich zu einer wahren Virtuosität.
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Ich wüsste nicht, lieber Joachim. Wahrscheinlich habe ich eine neue Kunstgattung kreiert. 🙂
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Habe ich mir fast gedacht, dass es einzigartig ist. 😉
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Die Welt ist häufig ein gnadenloser Ort
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Ja.
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Beeindruckend…
Weinen kann heilen. Sie hat sicherlich auch viel schlimmes erlebt.
Und die Abwesenheit von Max brachte das große Weinfass zum überlaufen…
Beeindruckend auch dieses Mal wieder deine Collagenlegebilder, sehr kunstvoll dieses Mal wieder.
Herzliche Morgengrüße vom Lu
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Danke, Lu. Manchmal ist es eine Kleinigkeit,die reicht, damit eine angestaute Traurigkeit sich Bahn brechen kann. „Weinfass“ ist gut getroffen.
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Freut mich ⭐ ⭐ ⭐
Hab’s fein 🙂
HG Lu
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Ach, Gerda, Will.ie hat so viel gesehen, so viel erlebt in ihrem kurzen Leben, das schon gar nicht mehr so kurz ist. Überall begegnet sie Leid und überall zu helfen, geht über ihre Kräfte. Ihr Herz schlägt immer noch im rechten Takt, aber es ist nicht mehr das des Neugeborenen, es ist das eines Wesens, das zu vieles nicht heilen konnte.
Ein schönes Herz hast Du ihr geschenkt
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Liebe Bruni, so geht es wohl beim Älterwerden. Aber weiter sich bemühen, und wo immer möglich zu lächeln, das ist immer möglich..
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