Impulswerkstatt: „Bernstein“ – Ein Kapitel aus „Schwanenwege“

 

Beim Anblick des Bernsteins – aufgefrischt durch Myriades heutigen Beitrag dazu – fiel mir ein Kapitel meines Romanfragments „Schwanenwege“ ein, in dem ich alles Wissenswerte über den Bernstein untergebracht habe. Ich hoffe, die Lektüre ist genuss- und lehrreich, auch wenn du nicht völlig verstehen (aber vielleicht erahnen) wirst, wie die Handlungsstränge hier zusammenlaufen. Wir befinden uns am vierten Tag des insgesamt 7 Tage dauernden Abenteuers, das sich über 700 Seiten entfaltet.

Die Personen: Am Steuer sitzt Antonio Salieri, Komponist wie sein Vorfahr gleichen Namens und alter Verehrer von  – Elisabeth, einstmals Wiener Konzertpianistin, Witwe des dänischen Mathematik-Professors Nils (sie sitzt auf dem Beifahrersitz). Sie ist Mutter von fünf: – Gise, ihre älteste Tochter, und – Harald, ihr ältester Sohn sitzen auf dem Rücksitz des Wagens. Nur die Rede ist von – Ludwig, Elisabeths zweitem Sohn, und den Jüngsten, den Zwillingen: –  Swen ist mit einem Privatflugzeug abgestürzt und liegt bewusstlos in einem Krankenhaus in Genua (Gise war am Vormittag mit einem Polizeibeamten, den sie C wie Caesar nennt, zur Besichtigung der Absturzstelle gefahren) und Swens Zwillingsschwester – Swantje befindet sich Ägypten.

Schwanenwege, 4. Tag, Ligurien, am Nachmittag

Bernstein

Herr Salieri folgte der Küstenstraße Richtung Westen. „Wir fahren jetzt auf der Via Aurelia, der goldenen Straße, auf der einst die römischen Legionen und Kaufleute zogen.“ Seit ihrer Abfahrt sprach er ununterbrochen, sein italienisch eingefärbter Wiener Dialekt nahm allem, was er sagte, Gewicht und Strenge. Das plätscherte so fort, knochenlos, verliebt in den musikalischen Fluss der eigenen Stimme. Ab und zu hob sich ein Satzfetzen aus diesem Strom heraus und drang bis zu Gises Bewusstsein vor. „Ein paar Kilometer voraus die Stadt Vado Ligure, zu Zeiten des Augustus als Vada Sabatia bekannt. Die großen Straßen des römischen Reiches bündelten sich oberhalb des Capo di Vado, dessen Leuchtturm noch heute ein Orientierungspunkt für die Seefahrer ist.“

Noch so ein Caesar, ging es Gise durch den Sinn. Noch ein verkappter Feldherr und Römer. Ihr fielen auch Quo vadis und die durchmarschierenden Heerscharen ein, die „Caesars“ Gesicht so wollüstig hatten erglänzen lassen. Sie beugte sich zu Harald hinüber und flüsterte ihm ins Ohr: „Wieso bist du nicht zur Ortsbesichtigung erschienen?“. Doch Harald hob abwehrend die Hand und murmelte „nachher“.

Inzwischen war Herr Salieri von den Feldzügen zum antiken Bernsteinhandel übergegangen. Mit leicht erhobener Stimme wandte er sich an die Geschwister: „Bis zu Euch hinauf gingen die Handelswege. Die Hauptmasse des Brennsteins kam ja aus dem Ostseegebiet.“

„Brennstein?“, fragte Gise gehorsam.

„Ja, Brennstein, liebe Gise! Wussten Sie nicht, dass Bernstein mit einer schönen Flamme verbrennt und dabei einen feinen Duft verbreitet, vergleichbar dem kostbarsten Weihrauch?“

Gise tastete unwillkürlich nach der Bernsteinkette, die sie auch heute angelegt hatte. Nie wäre sie auf die Idee gekommen, dass sie brennbar war.

„In den reichen Bürgerhäusern Roms“, fuhr Herr Salieri fort, „gab man dem reinen Bernsteinlicht den Vorzug vor den üblichen qualmenden und stinkenden Brennstoffen. Die schönsten Stücke gingen freilich schon damals in die Schmuckherstellung.“ Und dann erzählte er lang und breit von Popäa, Neros schöner Gemahlin: Sie habe sich die Haare bernsteinfarben tönen lassen, damit sie zu ihrem Lieblingsschmuck passten, und natürlich hätten ihr bald alle vornehmen Römerinnen nachgeeifert. Außerdem habe man an die Heilkraft des Bernsteins geglaubt. Als Amulett getragen oder zermahlen, mit Honig und Rosenöl versetzt sei er gut gegen Hals- und Brustleiden gewesen.

Die Rede floss Herrn Salieri glatt und wohlklingend über die Lippen, während der schwere Wagen leise surrend nach Westen rollte. Gise hätte sich gern mit Harald besprochen, es gab so vieles zu planen und zu bedenken. Sie hatten jetzt Swantjes Anschrift, sie mussten dringend mit ihr Kontakt aufnehmen. Stattdessen war sie gezwungen, Salieris Vortrag über den Bernstein und die „enorme Nachfrage“ anzuhören, die „in der Antike zu explodierenden Preisen führte“.  Was heute das Erdöl sei, das man zu Recht schwarzes Gold nenne, das sei damals das Gold des Brennsteins gewesen. „Das imperiale Rom hat den Barbaren den profitablen Handel abgejagt und ihn durch gut bewachte Straßen gesichert, ganz ähnlich den Amerikanern heute, die den Erdölhandel unter ihre Kontrolle gebracht haben.“ In vielen Namen stoße man noch heute auf ein fernes, kaum noch verstandenes Echo aus der Zeit des brennbaren Goldes, „beredte Zeugen einer versunkenen Zeit, als sich Nord und Süd im Bernsteinhandel verbanden. Die Alpenpässe: Großer und kleiner St. Bernhardt, Brennero, San Bernardino und Bernino, die Alpentäler des Brenno und der Brenta, Städte diesseits und jenseits der Alpen wie Brundisium, Brienz, Breno, Berona, Bressano, Bernina, Brand und Bern“.

Flüssiges Gold, brennendes Gold,  schwarzes Gold, Brennstein. Die Wörter flogen sie an und verhakten sich mit anderen Namen und Bildern zu sinnlosen Ketten: Gold in Caesars Mund, Goldvorkommen und Goldbergwerke, Goldsucher, flimmerndes Gold im Wasserfall, die goldenen Rosen von Lerna, schlangenbewacht. Der Name der Rose. Ein Himmel voll goldener Geigen, Herrn Sivoris’ schlängelnder Gang, Guarneri del Gesù und der Bernsteinlack. Eine unbekannte Rezeptur, die Leute seien fanatisch hinter dem Geheimnis her „wie hinter dem heiligen Gral“ – ja, sie erinnerte sich genau, sie hatte sich über Herrn Sivoris Worte nicht wenig gewundert. Waren die Zwillinge bei ihren Recherchen über den italienischen Geigenbau dem Geheimnis des Lacks auf die Spur gekommen? Sie durfte nicht vergessen, mit Harald darüber zu reden. Vielleicht war das ein wichtiger Hinweis. Wieder tastete Gise nach ihrer Bernsteinkette, als ob sie ihr eine Antwort geben könnte.

Da war doch noch etwas gewesen. Sie suchte in ihrem benommenen Kopf und fand ein Bild: Im Phaethon, die Heliaden, deren Tränen zu Bernstein wurden, als ihr Bruder abstürzte.

Als ihr Bruder abstürzte. Wie ein Steinschlag, losgetreten von Herrn Salieris sonorer Stimme, die fort- und forttönte – „Brünn, Brestanica, Breslau, Brenslau, Prenslau, Brno, Brandenburg  und Berolino, Burnswick und Branesia“ –  stürzten die Bilder auf sie ein: Phaethon, der den Sonnenwagen nicht zügeln konnte. Seine trauernden Schwester. Der Ligurerkönig als Schwan. Rheas Zaubergarten, Epaphos hatte auf dem Santouri gespielt und dann seine Hand auf die ihre gelegt, als müsse es so sein. Ein Schwan hatte sie besucht – ach, sein herrliches Gefieder! Sein schlängelnder Hals! Da hatte sie Bruder und Schwester vergessen, da hatte sie keine Tränen geweint, sondern sich die Bernsteinkette umgelegt und war hinabgestiegen in den Bauch eines Schiffes. Rubinroten Wein hatte sie getrunken und getanzt und geraucht, und am Morgen hatte ein grünes Kleid im Schrank gehangen, das hatte golden eingewebte Ornamente, und Herr Mercurio hatte ihr eine Leda verehrt, die war nackt und aus Porzellan und ein sehnsuchtsvoller Schwan schmiegte sich an ihren Fuß. „Wo immer Sie ein Bern oder Bren, ein Barn, ein Bran oder Pryn, ein Pern, ein Pren, ein Bruns oder Burn hören, war das brennbare Gold mit im Spiel,“ tönte Herrn Salieris Stimme dazwischen.

Brennbares Gold, Tränen der Sonnentöchter. Gise starrte auf die vorbeiflitzende Landschaft, bis ihre Augen tränten. Es war dieselbe Strecke wie am Vormittag. Sie waren dann ins Landesinnere abgebogen und einer sich ständig verengenden Spirale gefolgt – oder war es ein Labyrinth? –. Im Zentrum der Platz, an dem Swen abgestürzt war. Seine zerbrochenen Flügel. Das Labyrinth gab ihn nicht frei. Kein Minotaurus. Aber schwarze Schlangen, sagte C wie Caesar. Sie hatte keine gesehen. Im Wasserschleier des kleinen Katarakts schimmerte es golden. Über der Pyramide des Monte Bobbio zog ein Raubvogel seine enger werdenden Kreise, bis er sich hinabstürzte auf seine Beute. Swen hatte sich nicht hinabgestürzt – oder doch? Welche Beute hatte er dort in der Tiefe erspäht?

Vor ihr saß jetzt nicht der schweigsame Carabinieri, sondern Elisabeth, ihre Mutter. Wieso war Mutter überhaupt hier? Hatte sie sie nicht als bettlägerige alte Frau auf Svaneby zurückgelassen, unter der Fürsorge von Ludwig?  Und am Steuer saß Antonio Salieri, der offenbar nicht tot, sondern mit Mutter befreundet war und gerade erklärte, dass andere Orte ihren Namen vom Amber erhalten hätten, was ja auch Bernstein bedeute. „Ambracia an der griechischen Westküste, Amborn, Hamborn und Hamburg bezeugen den Bernsteinhandel. Nicht wahr, Harald, das wussten Sie nicht, dass Hamburg wahrscheinlich als Station im Handel mit dem Amber gegründet wurde – geradeso wie Hamburgs Konkurrenzstadt Antwerpen, die früher Amberes hieß?“

Gise hörte, wie Harald neben ihr ein höfliches „interessant“ murmelte, aber auch er schien nicht recht bei der Sache zu sein. Er wirkte irgendwie verloren. Sie musste unbedingt eine Gelegenheit finden, mit ihm zu sprechen, ohne dass die beiden da vorn sie hören konnten. Mutter brauchte ja nicht alles zu wissen.

Auch Elisabeth hing ihren Gedanken nach, dankbar, dass Antonio für die Konversation sorgte und sie nicht reden musste. Sie sah Swens Gesicht vor sich, von Fieber gerötet und von der weißen Binde entstellt. Sie fühlte sich sehr unsicher und bedrückt. Nur einmal mischte sie sich kurz ins Gespräch: Auch sie habe eine Kette aus Bernstein, eine Gebetskette, Nils hätte sie in Griechenland gekauft und ihr geschenkt. „Jede der Perlen hat einen kleinen Einschluss und somit eine Individualität, ich liebe sie sehr und habe sie immer bei mir“ – und sie kramte in ihrer Handtasche, um sie vorzuweisen, aber sie war nicht da. Elisabeth hatte vergessen, dass sie zerrissen auf ihrem Nachttisch in Svaneby lag.

Herr Salieri überbrückte ihr ratloses Schweigen mit einer neuen Geschichte: „Die Griechen waren ebenfalls sehr am Bernstein interessiert, den sie wegen seiner elektromagnetischen Eigenschaften Elektron nannten. Alexander beauftragte Pytheas aus Massalia, dem heutigen Marseille, nach den Quellen des Bernsteins zu forschen, und er fand sie tatsächlich am Ende der Welt im Norden, das man Ultima Thule nannte. Wo dieses Thule lag, darüber rätseln die Gelehrten noch heut.“

Mirka, wo bist du?, dachte Harald. Hier ist noch einer, der nicht weiß, dass Thule vor deiner Küste liegt. Er fühlte sich leer und zerschlagen, wie ausgehöhlt. Wie entmannt. Der Verlust seiner Brieftasche, seine Schwester auf Abwegen, Mutters plötzliches Auftauchen, gemeinsam mit diesem Herrn, der einen Monolog  über Bernstein herunterspulte – wohin hatte es ihn verschlagen!

Der Wagen war inzwischen von der Autobahn abgebogen und glitt auf einer kurvenreichen Straße der Gebirgskette entgegen. Weinberge und lichte Laubwälder wechselten sich ab. Nach wenigen Kilometern zeigte ein gemaltes Schild ein Ausflugslokal namens Faraona an.

Über gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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9 Antworten zu Impulswerkstatt: „Bernstein“ – Ein Kapitel aus „Schwanenwege“

  1. Myriade schreibt:

    Wissenschaftliches, Historisches und Mythologisches über den Bernstein. Das passt ganz hervorragend in mein Konzept der Impulswerkstatt: verschiedene Arten von Resonanzen. Vielen Dank für diesen ersten Beitrag, den man teilweise in die Kategorie Sachbeiträge einreihen könnte.

    Gefällt 3 Personen

  2. finbarsgift schreibt:

    Feines Kapitel aus deinem Buch. Danke fürs Präsentieren! 🤗
    Der Zusammenhang mit Brennen als Brennstein war mir neu und die vielen daraus entstandenen Namen. Meine Güte.
    Weiß man, warum es an der Ostsee besonders viel Bernstein gab, gibt?
    Hab einen schönen Tag!

    Gefällt 3 Personen

    • gkazakou schreibt:

      Was ich heute im internet fand (Bernstein direkt.de):

      „Es wird vermutet, dass es vor ca. 30 – 50 Millionen Jahren, im Bereich der heutigen Ostsee einen Bernsteinwald gegeben haben muss, in dem die Bäume überdurchschnittlich viel Baumharz produzierten. Durch starke und häufige Regenfälle gelang das Harz in damalige Flüsse und Seen.
      Auch glaubt man, dass es einen Bernsteinfluss, den „Eridanos“ gegeben haben muss – vergleichbar mit dem heutigen Amazonas – der regelmäßig sehr große Mengen Treibholz und Bernstein transportierte. Die Region um Jantarny bei Kaliningrad in Russland, könnte dabei die Mündung des Eridanos sein.“

      Der im Text erwähnte Eridanos ist in der griechischen Mythologie ein gewaltiger Fluss in Hyperborea (äußerster Norden). Phaeton, der Sohn des Sonnengottes, stürzte in den Eridanos, als er, allzu übermütig, die Kontrolle über den Sonnenwagen seines Vaters Helios verloren hatte. Seine Schwestern, die Heliaden, wurden am Ufer des Eridanos in Schwarzpappeln und ihre Tränen in Bernstein verwandelt.
      Nach dem mythischen Fluss ist das Sternbild Eridanus sowie ein (hypothetischer) Fluss im tertiären Nordeuropa benannt..
      Auch das weitgehend unterirdische Flüsschen von Athen, das den antiken Friedhof Kerameikos bewässert und zu einem interessanten Biotop macht, heißt Eridanos.

      Unterwegs im Kerameiko

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  3. Was für ein interessanter, wissenswerter und ausführlicher Text aus Deinen Schwanenwegen, liebe Gerda.
    Ert vor einigen Tagen legte ich ein Buch seiseite, in dem viel über Bernstein als Schmuckelement stand. Vor Jahren hab ich in Dänemark täglich nach Bernstein gesucht und immer fand ich Steine in schönen Farben, aber nie war mal ein Stückchen Bernstein dabei. (Es war die falsche Küste 🙂 )

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