Hitze: Vier Aquarell-Federzeichnungen und ein Ausflug in Sprache, Mythos und Poesie (Neue Rubrik: deutsche Wörter griechischer Provenienz)

Während in Deutschland der Herbst Einzug hält, herrscht hier Sommerglut. Die Glücklichen, die weiterhin schwimmen gehen können (darunter ich), werden rarer.

Heute habe ich vier weitere Hitze-Bilder aus meinem Archiv* gezogen. Ich war, als ich diese Zeichnungen machte, erst ein paar Jahre in Griechenland, und ebenso lange befasste ich mich mit dem Zeichnen und Malen.  Die Siesta bot mir eine wunderbare Gelegenheit, schlafende oder tief ruhende Menschen zu zeichnen. Ich erinnere mich an die schwere Lethargie*, die alle Menschen nach dem Mittagessen erfasste, so dass sie hinsanken und am Boden oder auf einer Liege fast zerfließend, sich dem süßen Morpheus* anvertrauten.  

Die Zeichnungen sind in unserem damaligen Sommerdomizil, dem Häuschen meiner Schwiegermutter, entstanden.


Kleines Lexikon deutscher Wörter griechischer Provenienz

Vorbemerkung: Ab jetzt werde ich manche deutsche Wörter, die aus dem Griechischen entlehnt sind, ein wenig erklären: Etymologie, Bedeutungswandel, Assoziationshof etc. Dadurch wirst du nicht nur in die griechische Sprache und Denkweise eingeführt, sondern verstehst auch deine eigene Sprache tiefer.

Rückblick: Ich habe das auch früher schon oft getan, beesonders aber unter der Rubrik „Griechisches Alphabet des freien Denkens“, das ich im Wechselspiel mit Ulli Gaus Rubrik „Deutsches Alphabet zum mutigen Träumen“ entwickelte. Mein Alphabet begann am 8. Dezember 2016 mit Alpha https://gerdakazakou.com/2016/12/08/alphabet-des-freien-denkens-a-wie-anthropos/und endete am 15. Febraur 2017 mit Omega https://gerdakazakou.com/2017/02/15/griechisches-alphabet-des-freien-denkens.

Der Startschuss zu diesen Alphabeten, die ich weiterhin sehr lesenswert finde, fiel so: „Unter  https://gerdakazakou.com/2016/11/30/apropos-documenta/ kommentierte Ulli: Dein Alphabet in diesem Zusammenhang, liebe Gerda, ist so wahr und real, wie traurig- schon denke ich über ein Gegenüber nach, eins, dass von mutigen Träumen gespeist wird“. Das gefiel mir sehr, und so schlug ich vor: Du machst ein deutsches Alphabet zum mutigen Träumen und ich mache ein griechisches Alphabet zum freien Denken.

Nun aber zu den ersten zwei Wörtern griechischer Herkunft, die in meinem obigen Text eine Rolle spielen und im Deutschen gebräuchlich sind. 

*Lethargie

ist abgeleitet von λήθαργος (lithargos). 

Definition DWDS:

Lethargie f. ‘starke Schläfrigkeit mit Bewußtseinsstörungen, Schlafsucht’, als Krankheitsbezeichnung im 16. Jh. aus spätlat. lēthargia, griech. lēthargía (ληθαργία) ‘Schlafsucht’ entlehnt, aber erst seit dem 18. Jh. allgemein geläufig, vielfach in der übertragenen Bedeutung ‘Trägheit, Gleichgültigkeit, Teilnahms-, Interesselosigkeit’….

Wie so oft,  wenn wir zu den Sprachwurzeln hinabsteigen, stoßen wir auf Elemente der griechischen Mythologie: Lethe. Das ist das Wasser, von dem die Gestorbenen trinken, wenn sie ins Totenreich eingehen. Lethe, „das Verborgene“, symbolisiert das große Vergessen, das einsetzt, wenn du diese Erde verlässt. So wird dich nichts mehr an dein zurückgelassenes Leben erinnern, wenn du irgendwann wiedergeboren wirst.  „Die Seelen nun, denen das Fatum andere Leiber bestimmt, / schöpfen aus Lethes Welle heiteres Nass, so trinken sie langes Vergessen.“ (Vergil, Aeneis).

Α-λήθια (alethia, Wahrheit), das „Unverborgene“, wird dem zuteil, der im Totenreich nicht aus Lethe, sondern aus Mnymosyne (Gedächtnis) trinkt. Er ist der Wissende, der das Verborgene kennt, da er über alle Verkörperungen hinweg die Erinnerung behält. Der Titel von Paul Celans Gedichtsband „Mohn und Gedächtnis“ (1952) spielt auf  diesen Mythos an. Es ist eine Zeile aus dem Gedicht Corona (!).

 

*Morpheus

M-Orpheus ist der Gott des Träume, dem du begegnest, wenn Υπνος  (Hypnos, Schlaf –  vergl Hypnose) dich lebendigen Leibes auf die andere Seite bringt, so dass du lernen und dich von den Strapazen des Diesseits erholen kannst.  Auffallend ist die Ähnlicheit mit Orpheus, dem Helden, der in die Unterwelt hinabstieg, um seine geliebte Eurydike zurück ins Leben zu führen. Doch diese wandte sich zurück…

Im Deutschen kennst du das Wort vor allem als Morphin, dem aus Schlafmohn gewonnenen Rauschmittel, das Schmerzen betäubt und den Leidenden in einen Zustand süßer Lethargie versetzt. Μορφή (Morphe, Gestalt) ist dir sicher aus der Geologie als „Morphologie“ bekannt ist. Der Traumgott Morpheus ist der Vielgestaltige: jede Form kann er annehmen, wie du weißt.

Eine besondere Affinität hat Morpheus zu den Fledermäusen, in deren Gestalt er gern erscheint. Daran dachte ich heute Nacht, als ich schlaflos auf der nächtlichen Terrasse saß, während Fledermäuse blitzschnell an mir vorbeiflitzen, auf der Jagd nach Mücken, von denen es viele gab.

Anhänger des Orpheus-Kultes gaben ihren Toten eine Anweisung mit, darauf wurden sie gewarnt, sich gleich auf die Quelle der Lethe zu stürzen, um den Durst zu löschen. Nein, weiterschreiten sollst du zum Wasser der Mnymosyne und zu den Wächtern sagen: „Ich bin ein Sohn der Erde (Gaia) und des gestirnten Himmels (Uranos), aber mein Geschlecht ist himmlisch, das wisst ihr ja auch selbst. Aber ich bin ausgetrocknet vor Durst und gehe zugrunde; so gebt mir rasch das kühle Wasser, das aus dem Teich der Mnemosyne fließt….. Wenn du dann getrunken hast, darfst du den heiligen Weg gehen, den auch die anderen berühmten Mysten gehen….“ (R. Merkelbach, zitiert nach Wikipedia)

Vieles ließe sich zu diesem Wortpaar Lethagie-Morpheus weiterspinnen bis in unsere heutige Zeit …..

ZB warum es grad die Fledermäuse sind, die uns unsere heutige Krise beschert haben sollen.  Oder ist sie vielleicht doch eher ein Produkt unserer von Kunstlicht und Lärm durchsetzten Schlaflosigkeit, die uns von der heilenden Traumwelt und den Informationen des Jenseits abschneidet?

Siehe hierzu auch Ulli Gau, und den Liedtext von Simon & Garfunkel: In restless dreams I walked alone …

Und nun noch ein Link: Paul Celan liest sein Gedicht „Corona“.

Paul Celan – Corona

 

Aus der Hand frißt der Herbst mir sein Blatt: wir sind Freunde.

Wir schälen die Zeit aus den Nüssen und lehren sie gehen:

die Zeit kehrt zurück in die Schale.



Im Spiegel ist Sonntag,

im Traum wird geschlafen,

der Mund redet wahr.



Mein Aug steigt hinab zum Geschlecht der Geliebten:

wir sehen uns an,

wir sagen uns Dunkles,

wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis,

wir schlafen wie Wein in den Muscheln,

wie das Meer im Blutstrahl des Mondes.



Wir stehen umschlungen im Fenster, sie sehen uns zu von der Straße:

es ist Zeit, daß man weiß!

Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt,

daß der Unrast ein Herz schlägt.

Es ist Zeit, daß es Zeit wird.

 

 

 

 

 

Über gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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20 Antworten zu Hitze: Vier Aquarell-Federzeichnungen und ein Ausflug in Sprache, Mythos und Poesie (Neue Rubrik: deutsche Wörter griechischer Provenienz)

  1. Vielen lieben Dank Gerda für diesen fantastischen und gefühlvollen Beitrag! Deine Zeichnungen sind wunderschön und sooo passend zum Thema hier!
    Die Musik von Simon & Garfunkel liebe ich seit jungen Jahren bis heute! Ich bekomme immer noch Gänsehaut, wenn ich ihre gefühlvollen Songs höre!
    Ich wünsche Dir noch einen angenehmen Resttag! Und jetzt werde ich die Sprachkenntnisse und Bedeutungen nochmals genauer lesen!😉🤗🙋‍♀️😁

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  2. Gisela Benseler schreibt:

    Deine leichten Aquarell-Zeichnungen sind Die wunderbar gelungen, Gerda. Nur wie malt man sie selbst?

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  3. Random Randomsen schreibt:

    Nun weiß ich ja nicht ob das Absicht war oder ob eher maltechnische Überlegungen ausschlaggebend waren: aber ein AQUArell passt ja schon auch von der Symbolik her ganz fein zur Lethargie. 🙂
    Deine sprachlichen Ausflüge erfreuen mich sehr (einmal mehr). Es erschiene mir durchaus hülfreich, wenn die Menschen die Sprache nicht nur zum Reden (oder im besten Fall, um etwas zu sagen) brauchen täten, sondern auch mehr darauf achteten, was die Wörter erzählen (an Geschichte und Geschichten). 🙂

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  4. afrikafrau schreibt:

    In griechischer Mythologie kenne ich nicht aus, in Aquarellen sehr gut, aber nur weil ich erst dann weitere Schritte gegangen bin, mich selbst habe ich nie gezeichnet, vielleicht in versteckter Weise, ja. So habe ich heute dazugelernt.Danke schön. ein anderer Ansatz auf die Sprache, auf die Worte.

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  5. Dass du bei der Hitze immer noch so interessante Posts zustande bringst ist bewundernswert. Die Aquarelle sind super. Auch damals schon hast du gemalt statt wie anderen Siesta zu machen.
    Für den Text muss ich mir morgen noch mal Zeit nehmen.

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  6. Karin schreibt:

    Das gibt viel Lesestoff, habe ich doch die damaligen Beiträge von Dir verpaßt , es kommt gerade richtig zu Zeiten, in denen das Leben vermehrt drinnen stattfindet und Deine Ausführungen bereichern meine Kenntnisse der griechischen Mythologie wieder neu.
    Die Aquarell-Federzeichnungen sind traumhaft schön.
    Einen herzlichen Abendgruß an Dich, Karin

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  7. Ule Rolff schreibt:

    Die aquarellierten Federzeichnungen schlagen für mich in der Verknüpfung mit Celan einen Bogen zu Ingeborg Bachmann.
    Die Verbindung zur Etymologie erkenne ich von dorther zwar nicht, empfinde aber auch so Vergnügen über deine sprachlichen Informationen.

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  8. gkazakou schreibt:

    Die Verbindung zur Mythologie liegt im tiefen Schlaf und Vergessen (Lethe), dann über die andere Quelle (Mnemosyne) zu Mohn und Gedächtnis und Celans Gedicht Corona (Es wird Zeit, dass es Zeit wird) (und, wenn du willst, aber nicht chr. notwendigerweise auch zur Bachmann). Ich dachte, ich hätte das deutlich gemacht.

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  9. www.wortbehagen.de schreibt:

    Deine Federzeichnungen sind wundervoll, liebe Gerda
    und Dein gesamter Beitrag beinhaltet so viel Wissenswertes, daß ich gar nicht auf einmal imstande bin, sie in mich aufzunehmen. Aber ich kann ja immer wieder hier nachlesen.
    Sprachwurzeln sind sowieso hoch interessant und ich mag Deine Erklärungen dazu sehr

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    • gkazakou schreibt:

      das freut mich sehr, liebe Bruni. ich bin ein Fan der Etymologie,die ich freilich nicht eng auslege.Manchmal genügen mir auch Assoziationen, die durch lautliche Ähnlichkeiten zustande kommen. Ich finde das auch legitim. Denn wie kam Sprache zustande? Durch nachahmende Lautung. vermutlich. .

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      • www.wortbehagen.de schreibt:

        ja, und dann die Sprachwanderung. In deutschen Worten sind so viele Sprachen enthalten, daß man es manchmal kaum glauben kann, daß auch ein scheinbar einfaches Wort seine Wurzeln in einem entfernten Land hat.

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    • gkazakou schreibt:

      genau. Zum Beispiel das Wort Musik. Kommt aus dem Griechischen, μουζική, von den Musen… oder Chor χορός. Tanz, denn im antiken Theater sang der „Chor“ der Tänzer. Oder Theater, das kommt von θεατρο und darin steckt das Wort thea – Sehen, Sicht , aber auch göttlich, die Göttin. Oder Telefon (τηλέφωνο – Stimme von weit). Oder nimm das Wort Tür. θυρ (Thür) ist altgriechisch. Es ist ein unendliches Feld.
      Viele Wörter im Deutschen sind nicht direkt, sondern über das Lateinische aus dem Griechischen eingewandert. Rom hat die griechische Kultur und Sprache aufgesogen, umgewandelt und durch die Kirche an den Norden Europas weitergegeben. Manche dieser Wörter sind später aus dem Angelsächsischen ins Griechische zurückgewandert, zB Disco (wo man tanzt), Discothek – die Theke *θήκη für flache Scheiben (δίσκος, Diskus)..

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  10. wolkenbeobachterin schreibt:

    das sind ja tolle zeichnungen.

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