Athen, historische Bröckchen (2): Zwei geschlossene Eisentüren (Raum-Zeit-Collage)

Die erste Eisentür: Bei unserem gestrigen Streifzug durch Athen machte mich Freundin Eleni auf eine recht unscheinbare eiserne Tür aufmerksam und wies zugleich lachend auf den Namen der Straße.

Was verbarg sich hinter der eisernen Tür mit der Aufschrift  „Exarchia Panagiou Taphou“? Eleni erklärte es mir: Von hier aus wird das Feuer, das zu jedem Osternfest aus der Auferstehungskirche in Jerusalem per Flugzeug nach Athen gebracht wird, an alle Bischofssitze und von dort an alle Kirchen des Landes verteilt. In der Osternacht, sobald der Gesang „Er ist auferstanden“ erklingt,  werden die Gläubigen an der heiligen Flamme ihre Auferstehungskerze entzünden.  Diese bescheidene Tür. Hier ist also der Ort….

Odos Erechtheos – das verstand ich. Erechtheus ist mir kein Unbekannter: Halb als Mensch, halb als Schlange gestaltet, gilt er als der eigentliche Gründer Athens.  Das über seinem Grab errichtete Erechtheion, anmutig geschmückt mit den Karyatiden, gilt als die „Arche“ der Stadt*.

Der Ort. Die Zeit.

Eben verschwand die Sonne hinter dem „Heiligen Felsen“ (Iero vrachos) der Akropolis. Und meine Gedanken begannen zu schweifen. Wenn du magst, folgst du mir noch ein wenig in die Tiefen der Zeiten. Zu den Anfängen. Zur αρχή (Arche)*. (Unter dem Strich kannst du, wenn du magst, lesen, was mir zum Wort Arche eingefallen ist).

Von diesem Felsen also hatten sich die Töchter des Kekrops gestürzt, damals, in grauer Vorzeit, als sie, dem Gebot der Athene zuwiderhandelnd, den Korb öffneten, in dem der neu geborene Erechtheus lag. Geboren hatte ihn Gaia (Erde), sein Vater war Hephaistos (Vulkan) gewesen. Athene hatte den Säugling in einen geschlossenen kastenförmigen Korb (Kasten! Noahs Arche! Moses Korb!) gelegt und den drei  Töchtern des Kekrops anvertraut – mit dem Gebot, nicht hineinzuschauen. Zwei der Töchter öffneten den Korb, wurden wahnsinnig beim Anblick des schlangenförmigen oder von Schlangen umwundenen Kindes und stürzten sich vom Akropolis-Felsen. Die verbliebene Schwester zog den Säugling auf.

Vielleicht war es auch ganz anders. Mythen sind von Natur aus vielgestaltig. Erechtheus kann sehr wohl auch andere Eltern gehabt haben. Ein starker Anwärter ist Erichthonios, ein „autochtoner“ Herrscher (aus der Erde geboren), halb Mensch, halb Schlange auch er.  Oder Kekrops. Aber vielleicht sind die drei auch ein und derselbe.

 

Vielleicht war Erechtheus aber auch ein Zugewanderter, ein „Migrant“. Die sehr merkwürdige Geschichte der Empfängnis, Geburt, Adoption könnte das nahelegen. Diodor Siculus, ein Grieche aus Sizilien (80-20 v. Chr) behauptete, Erechtheus stamme ursprünglich aus Ägypten, habe die attischen Bewohner mit der Feldwirtschaft vertraut gemacht und so die grassierende Hungersnot beendet. Daraufhin sei er zum König gekrönt worden. Schon möglich – aber woher will dieser spätgeborene Grieche wissen, was tatsächlich ungefähr zur Zeit der Sintflut geschah? Ja, ja, solange ist das alles her….

Genauso gut und mit weit größerem Recht könnte Erechtheus aus Erech stammen, der uralten Stadt, die der „große Jäger“ Nimrod gründete…  Erech.Theus – der Göttliche aus Erech** (Unter dem Strich kannst du dann, wenn du magst, noch lesen, was ich dazu recherchiert und mir zusammengereimt habe).

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*„Arche“. Das griechische Wort Arche (αρχή) bedeutet „Anfang“ / du kennst es vielleicht aus dem Johannes-Evangelium. En arche ein o logos (am Anfang war das Wort). Die Arche des Noah heißt dagegen Kivotos (κιβωτός). Ein Kasten. Das davon abgeleitete κιβώτιο (kivotio) ist bis heute die Schachtel. Schachtel … eingeschachtelt….

Gleichklingend ist das Wort kivos (κύβος), der Kubus oder Würfel. Das eine wird mit i, das andere mit y geschrieben – aber es will mir nicht in den Kopf, dass die beiden Wörter nicht verwandt sind oder sogar ein– und dasselbe bedeuten. Denn war die Arche nicht eigentlich ein großer Kubus? Und ist der Kubus nicht das Symbol für alles Irdische, ja für die Erde, das Stabile selbst? Ganz abgesehen mal von Caesars κύβος ερρίφθη Kivos erifthei –  alea iacta est – der Würfel ist gefallen, als er den Rubicon überschritt und damit etwas in Fluss setzte, das faktisch die römische Republik beendete. Schweifende Gedanken.

Abb. aus ΕΛΛΗΝΙΚΟΣ ΠΟΛΙΤΙΣΜΟΣ – ΕΡΕΧΘΕΙΟ, Hier sieht man gut den Kasten-Inkubator unter dem Olivenbaum

Ein Inkubator, in dem frühgeborene Säuglinge am Leben erhalten werden, ist ja eigentlich auch ein Kubus. Der Kastenkorb, in den Athene den Säugling legte, ein vorzeitlicher Inkubator? Ist vielleicht das ganze Grab des Erechtheus mit dem darüber gebauten wunderbaren Erechtheion-Tempel ein Inkubator, in dem die noch allzu junge, noch nicht lebensfähige Athener Kultur im Schutz der „Koren“ (Töchter) heranreifte?

Ja, ja, ich weiß, all das ist ethymologisch gesehen Mist – das eine Wort, so wissen die Experten, kommt aus dem Lydischen, das andere aus dem Lateinischen, das dritte aus dem Hebräischen, Arabischen…. Aber so sind meine Gedanken eben: sie laufen an den Wortklängen hin, reimen sich etwas zusammen.

Und so geschah es mir auch mit dem Namen **Erechtheus – dem „Gott aus Erech“

Eine direkte Verbindung zwischen Noah und der vorhistorischen Stadt Erech wird im Ersten Buch Moses hergestellt: Nimrod „der Erste, der Macht gewann auf Erden“, war über die Linie Noah-Ham-Kusch ein Urenkel von Noah und herrschte über Babylon, Erech, Akkad und Kalne…..

Die biblische Stadt Erech aber ist gleichbedeutend mit der Kultur von Uruk.  Wikipedia:  „Das besondere wissenschaftliche Interesse an der Uruk-Zeit speist sich aus ihrer Bedeutung als Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit. Nach derzeitigem Kenntnisstand entstanden in ihr erstmals urbane und staatliche Gesellschaften. Deren Basis bildete eine arbeitsteilige Wirtschaft, die auf Massenproduktion ausgerichtet war. Gleichzeitig wurden viele wegweisende Technologien geschaffen; hierzu gehört auch die Erfindung der Schrift“.  

Eine Wendezeit, jawohl! Erechtheus war der Gründer … einer neuen Stadt, der ersten richtigen Stadt Europas, ATHEN! aus der die unsere, die „abendländische“ Kultur hervorwuchs. Und sein Grab-Tempel mit den wunderbaren Karyatiden war der Inkubator der neuen Kultur.


Vom zweiten Grab-Tempel – und der Auferstehung, die jedes Ostern gefeiert wird, brauche ich nichts weiter zu sagen. Das kennst du ja. Lehre, Tod und Auferstehung Christi sind die zweite Grundlage unserer abendländischen Kultur. Hier, im Schatten der Akropolis, flossen mir die beiden Ströme optisch in einen großen Strom zusammen.

Und die zweite Eisentür mit dem geschlossenen Rollo? Was ist mit der?

Vor dieser Tür stand ich zwei Tage zuvor. Sie ist, wie du siehst, mit Gaffiti übermalt. Unauffällig, halb verdeckt von einem Kiosk. Schon öfter war ich hier vorbei gekommen, aber aufgefallen war sie mir noch nie. Korai -Straße 4. „χορος ιστορικής μνήμης 1941-1944“ – „Ort historischer Erinnerung“. Aha. Hier sollte ich mich an etwas erinnern. An was bloß? Nicht an die Ursprünge der abendländischen Kultur, sicher nicht. Nein, sondern an einen der Tief- und Endpunkte dieser Kultur.

Diese Tür führt hinab zu den Kellern, in denen die deutschen Besatzer Griechen gefangensetzten und quälten. Darüber, in dem einst prächtigen Gebäude der „Ethnischen Versicherung“, hatte sich die „Deutsche Kommandatur“ einquartiert. Aus dem Gebäude sollte eine Erinnerungsstätte an den Widerstand gegen die deutsche Besatzung werden. Es gibt Fotos von Besuchen der Spitzenpolitiker, sogar des Staatspräsidenten. Doch aus Gründen, die ich nicht kenne, wurde der Plan aufgegeben. Die griechischen Internetseiten schweigen sich aus. Umso mehr freut es mich, dass ich deutschsprachige Berichte und Fotos fand. Ich zitiere aus einem Bericht über Gedenkorte Europas: „„Drei ganze Jahre lang spielt sich im ersten und zweiten Kellergeschoss, welche sich direkt neben dem Kino Asty befinden, das nackte Grauen ab. Die Gefangenen, die hierherkommen, werden in der Regel von den Kellern direkt in die Gefängnisse der Averoffstraße, in Konzentrationslager, zum Ort ihrer Hinrichtung oder vor das deutsche Militärgericht überführt. Sechs Meter unterhalb der Erdoberfläche gelegen, ermöglichen die Keller die absolute Isolation mitten im pulsierenden Herzen von Athen. Die unterirdischen Gänge füllen sich mit menschlichen Körpern, Namen und Sätzen in verschiedenen Sprachen: griechisch, deutsch, italienisch, französisch, russisch und arabisch. Niemand kann genau sagen, wie viele Menschen in den Kellern der Koraistraße gefangen gehalten wurden. Allein die in die Wände gekratzten Zeichnungen zeugen von einer regen, ununterbrochenen Betriebsamkeit, die erst das Ende der Nazizeit abwarten muss, um zum Stillstand zu kommen“ (Droumbouki, S. 2).

 

Über gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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20 Antworten zu Athen, historische Bröckchen (2): Zwei geschlossene Eisentüren (Raum-Zeit-Collage)

  1. kopfundgestalt schreibt:

    Bewegend, dein Bericht!

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  2. Ulli schreibt:

    Was für ein Bogen von damals zu heute, das auch schon gestern ist.
    Geschichte(n) überlagern sich.

    Ich sehe die Mythologien der alten Welten als Symbolsprache des menschlichen Seins. Der Mensch in seinem Suchen, seinen Fragen, seinen Leiden und Taten hat sich kaum verändert, nur die Art zu leben und sich auszudrücken.
    Kunst ist immer auch Spiegel der jeweiligen Zeit, Sprache, Symbolik auch. Dahinter stehen für mich die Versuche das Wunder Leben in all seinen Spielarten erklärbar zu machen. Manches verstehe ich, anderes muss ich noch entschlüsseln.

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    • gkazakou schreibt:

      Herzlichen Dank, Ulli. Vielleicht hast du recht, dass „der Mensch in seinem Suchen, seinen Fragen, seinen Leiden und Taten sich kaum verändert“ hat und seine „Art zu leben und sich auszudrücken“ die eigentliche Variable ist. Sicher bin ich mir da freilich nicht, denn was ist der Mensch, wenn man ihn aus dem Strom der Entwicklung als „immer Gleiches“ heraushebt, so als werde sein Inneres überhaupt nicht tangiert von dem, was außer ihm geschieht und was er selbst, über die Zeiten hinweg, hervorbringt. Meinst du wirklich, der Mensch entwickle sich nicht auch im Innern, in seiner Substanz? Wozu dann die großen historischen Umwälzungen, von denen ich zwei hier auf einem Raum zusammensah: die Stadtgründung als neue Gemeinschaftsform zuerst und später dann das Christus-Ereignis als Liebesimpuls, der auf eine neue Gemeinschaft der gesamten Menschheit abzielt?
      Wie dem auch sei: lebendig und wichtig ist die Vergangenheit nur, wenn sie im Heute spürbar und erlebbar wird. Sehr häufig bleibt es bei trockenem historischem Wissen, und in den christlichen Ritualen bei Hülsen, denen der Inhalt verloren gegangen ist. Als ich mit Eleni unterwegs war, gab es Momente, wo ich den Strom der Wandlungen tatsächlich in mir spürte.

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      • Ulli schreibt:

        Ich behaupte nicht, dass der Mensch an sich seit 1000en von Jahren still steht, aber immer noch sind genauso alte Weisheiten für den modernen Menschen stimmig wie sie es einst für 2-3000 Jahren und mehr gewesen ist. Noch immer haben uns die Philsosophen des alten Griechenland, des alten Chinas etc. etwas zu sagen. So meine ich es. Hass, Neid und Gier versus Mitgefühl und Liebe waren damals schon Themen und sind es heute noch immer. Was nutzt all das sogenannte Wissen, wenn wir menschlich gesehen nicht wirklich von der Stelle kommen?

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  3. kowkla123 schreibt:

    danke für die Info und die Gestaltung, liebe Gerda, schön, wenn man aufwacht und es einem gut geht, nicht wahr? Also, alles Gute wünsche ich, Klaus

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  4. Danke für die tollen Fotos und die informativen Erklärungen!

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  5. TeggyTiggs schreibt:

    ….traurig, denke ich, nachdem ich vom Keller erfahren habe und, solche Keller, aus denen die Schreie der Gefolterten nicht nach außen dringen, gibt es überall auf der Welt heute noch, dagegen tröstlich von der eisernen Tür zu wissen, hinter der das segnende Licht scheint, das als Feuer in die Welt getragen wird…möge es ewig scheinen und die Herzen der Menschen erreichen…vielen Dank für diese Informationen!

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    • gkazakou schreibt:

      danke, liebe Teggytiggs. Es ist wohl immer ein Kampf, Das Leben läuft zwischen den entgegengesetzten Polen ab. Ob wir dabei als Menschheit vorangekommen sind, wie Ulli fragt?

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      • TeggyTiggs schreibt:

        …als Menschheit…hm…da habe ich meine Zweifel, eher scheint mir, wir werden wieder dumpf…wenn es keine Ausrichtung auf etwas Höheres gibt im Leben, und das scheint mir völlig verloren gegangen, werden Menschen wieder primitiv…

        …nicht jeder natürlich, viele erkennen, um was es hier geht, und die haben auch die Chance zu lernen und zu reifen…

        …aber insgesamt sieht es düster aus…

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    • gkazakou schreibt:

      ich bin da nicht sooo pessimistisch, liebe Teggytiggs.

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  6. Ule Rolff schreibt:

    Wie seltsam und schön, dass zwei „harmlose“ Türen am Wege zu solch weiten Bögen in die Zeit führen. Deine Gedanken nehmen solche Impulse auf und verknüpfen sie mit deinem profunden Wissen, manchmal auch mit deinem ebenso gründlichen Wissenwollen. Beides ist so kostbar, wird es so für uns, indem du es grenzenlos teilst und nicht „eingekastelt“ für dich behältst.

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  7. www.wortbehagen.de.index.php schreibt:

    Wie gut ist es, mit dir durch Athen zu streifen und von der Vergangenheit, die Du uns immer wieder nahe bringst.
    Arche, ein Wort, mit dem wir Moses und die Sinfflut verbinden und nicht viel mehr bisher, ja, noch den Berg Ararat, aber sonst… neues Wissen, das ankommt, beglückt in die Arme genommen wird und vieles gerät leider wieder in Vergessenheit.
    Doch ich erfahre, das Uruk, das ich dem Namen nach kenne, die urallte Stadt im Zweistromland, das biblische Erech ist und ich staune sehr.
    Und ich komme in die Zeit des 3. Reiches und mein Inneres krampft sich zusammen und ich höre die Stimmen der Menschen, als leises Murmeln kommt es bei mir an und war doch so anders…
    Oh Gerda, mit diesem Ende Deines Berichtes hätte ich nicht gerechnet, aber es gehört dazu, ich weiß, und leugnen wäre Unsinn.

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    • gkazakou schreibt:

      danke, liebe Bruni. So schön dein Mitgehen! Und ja, man vergisst, was keine Bedeutung im Lebensfluss hat. Es ist dann nur trockenes Wissen. Und doch beibt vielleicht eine Spur, die später wieder wichtig wird, irgendwann. Liebe Grüße und Gute Nacht!

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