Den ganzen Tag geht mir nicht aus dem Sinn, was ich gestern im Rahmen des Ping-Pong-Spiels angedacht habe – Ansätze, die sich dann im Austausch mit Ulli Gau, Ule Rolff und Gisela Benseler weiter ausgefächert haben (vergl die Kommentare dort). Besonders der Link, den Ule zu einem eigenen früheren Beitrag setzte und der mich seinerseits an einen kürzlichen Eintrag von Susanne Haun erinnerte, führten mich tiefer hinein in den Bedeutungshof von „Palimpsest“.
Susanne verweist auf Julian Schnabels „Appropriation Art“, und nennt ihr eigenes Tun „zeichnerische Aneignung“. Dabei handelt es sich um die Aneignung von Fremdem, indem man es durch Eigenes überformt. Es gibt aber auch ein anderes „Vor-Eigenes“, nämlich den Text, den Familie, Umfeld, Kultur uns vorgeben und von dem Goethe sagt:
„Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen“ (Faust I).
An diesem Text arbeiten wir uns ein Leben lang ab. Er ist unsere Grundlage. Ihn interpretieren wir. Über ihn legen wir Schicht um Schicht unsere eigenen Erfahrungen und Gedanken, versuchen uns als etwas Gesondertes, Besonderes abzuheben von diesem Grund. Manchmal fallen wir auch zurück in ihn, müde und beglückt, ein „Heimat“ zu haben.
Meine Palimpste sind ohne vorgegebenen fremden Grund entstanden. Sie gleichen der Biographie im engeren Sinne: „Schicht um Schicht übermalen wir frühere Entwicklungen mit neuen, und immer wieder kratzen wir mühevoll das Überlagerte wieder frei, um an diese oder jene Erinnerung heranzukommen.“ (Ule Rolff)
Ja. So ist es. Seitenverkehrt und rückwärts läuft die Schrift – Spiegelschrift, Reflexion. In den entstehenden Bildern bleiben schwarze Löcher und weiße Flecken, an die sich unsere Erinnerung nicht herantraut. Jedes Bild ist wie eine Biografie, keine gleicht der anderen.
Als ich vorhin mit lieben Menschen in der Taverne am Meer saß, lauschte ich ihrem Gespräch. Wörter schlugen an mein Ohr, und jedes Wort öffnete andere Schichten der Erinnerung. Es war, als würde das Palimpsest meines Lebens anfangen zu pulsieren, so dass lebendig wurde und tönte, was mit ihren Worten angeschlagen wurde: Samothrake, Ägina, Rigas Fereos, Brutus, Katerina, Arsinoe und viele noch, die dir nichts sagen, mir aber so viel. Bilder trieben aus den Tiefen an die Oberfläche, und alles war gleichzeitig da: Damaliges, Gegenwärtiges und die alles einhüllende Stimme des Meeres.
Eine neue Kunstreihe schwebt mir vor. Was daraus wird? Ich weiß es noch nicht.
…da scheint das Unterbewusstsein hindurchzuscheinen…ich bekomme Lust, es nachzumachen…
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!! Schön!!
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Text und Bilder ein wunderschönes Zusammenspiel.
für heute noch einen schönen Abend ganz liebe Grüße Sarah
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danke Sarah! Auch dir noch einen schönen Restabend! Gerda
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Spannend.
Welche Schichten kommen wohl zum Vorschein?
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kommt drauf an, wo und wie man kratzt und was man übermalt 😉
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Das ist eine großartige Inspiration, Idee und Ausführung!
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danke, Petra, ich freu mich sehr und denke über die Weiterentwicklung der Idee nach. Aber morgen muss ich erstmal reisen.
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Einerseits habe ich das alles jetzt sehr gerne gelesen, zumal es sich mit dem deckt was ich gestern hier noch weitergedacht und -entwickelt habe, andererseits nimmt es mir fast den Wind aus den Segeln … manchmal habe ich schlichtweg die Befürchtung, dass andere denken könnten, ich kupfere bei dir ab … na schaune wir mal was sich bei dir entwickelt und was bei mir, aber ich sehe schon, ich muss mich ein bisschen mit meiner Bildantwort beeilen 😉
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das ist mir neu, Ulli, dass du Konkurrenzängste hast. 😉 Abkupfern,dass ich nicht lache!
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da sind zweitweise so Gespenster in meinem Ohr 😉
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Liebe Gerda! Ich wünsche Dir ein gutes Freilegen und Aufarbeiten.. Daß schaffst Du sicher ohne mich!😊
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Guten Morgen, Gisela! jeder und jede macht es auf seine bzw ihre Art.
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Den Fast muss ich erstmal sacken lassen.
„Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen“ (Faust I).
Ich finde nicht alles, was ich von meinen Vätern geerbt habe, besitzenswert aber überdenkenswert. Ich kann damit arbeiten, das warum erforschen.
Danke für die Anregung am frühen Morgen,
Susanne
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Ich fürchte, man kann ein Erbe nur insgesamt annehmen oder insgesamt ablehnen. Die Rosinen herauspicken und den Rest den Geiern lassen, nur das Haus, aber nicht die Hypotheken, das geht nicht. Worauf es ankommt, ist, es sich „anzueignen“, also es zu transformieren und es zu Eigenem zu machen. Nur dadurch kann auch das Dunkle zu Licht werden.
Einen schönen Morgen wünsche ich dir, Susanne! Wir packen für Athen. Gerda
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Ich dachte an das geistige Erbe, liebe Gerda.
Gute Fahrt!
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danke, Susanne! Wir sind gut angekommen. ich dachte auch an das geistige Erbe, das allerdings oft auch in Dingen gespeichert ist. ZB in einem geerbten Klavier oder Haus oder Heimat oder Notensammlung oder Trauer oder Krankheit oder Schulden oder Schuld oder Bildung oder Familienfotos oder Kerzenständer oder …..
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O.K. – mmmh… ich habe diese Bindung zu Gegenständen nicht so ausgeprägt. Ich verbinde das Erbe mehr mit Dias/Fotos oder Situationen. Der Wohnraum wird immer geringer, so dass man sich von immer mehr Dingen trennen muss, um nicht darin zu ersticken. Das war ein Prozeß bei mir, natürlich auch gefördert von den Mengen, die meine Eltern angesammelt hatten.
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Ein Leben mit wachsenden Ringen/Schichten. Leichtfüßige dabei?
Gruß von Sonja (die komischerweise grad an die „Mode“ mit den Steinmännchen an Gewässern denken muss!?)
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Leichtfüßige dabei? O ja! danke für die Nachfrage, liebe Sonja.
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Eine gute Reise wünsche ich euch Beiden. Wohin es geht? Das verrätst Du Deinen Leser/innen sicher nach Deiner – hoffentlich glücklichen – Rückkehr. Wenn Du das ganze Erbe „erwerben“ willst,… ………gut, daß wir uns dabei gegenseitig nicht vergaßen, bisher. Das g e i s t i g e Erbe, daß wir uns neu „erwerben“ müssen, um es dann zu „besitzen“, daß teile ich doch weiterhin sehr gerne mit Schwester und Bruder und allen Menschen Guten Willens … Da gibt es doch gar keine Grenzen. Und über alles kann man/frau😊 sprechen. Danke aber vor allem für Deine Lebendigkeit und Liebe und alle Herausforderungen all die vielen Jahre, zum Segen der ganzen Familie….
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„Lesen muß man können..“. Also: Es geht wieder nach ATHEN. Eine gute Reise wünsche ich Euch Beiden…
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Wir sind also kein unbeschriebenes Blatt, wenn wir zur Welt kommen, liebe Gerda.
Da ist so vieles, was wir mitbekamen, da ist so vieles, was überlagerte und so vieles, was wir immer wieder freilegen. Erinnerungen kommen aus dem Dunkel , aus einer tiefen Schicht und manchmal hätten wir gerne etwas vergessen, was wir beim Graben und Kratzen fanden.
Als kleines Mädchen war es mir wichtig, von den Wurzeln der Familien zu erfahren und heute zehre ich davon, weil ich mir dadurch so vieles erklären kann.
Und weiter legt sich Schicht auf Schicht und das Kratzen wird schwieriger, weil zu viel Neues darüber liegt, das sich festgefressen hat und kaum weichen mag….
Ohne Geschwister kann ich nicht vergleichen, wie sehr wir uns unterschieden hätten, wie die Schichten bei den Geschwistern ausgesehen hätten. Schade ist es.
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danke, Bruni. Ja, so sehe ich es: wir sind kein unbeschriebenes Blatt, wenn wir geboren werden, und bis wir überhaupt zu einem bewussten Ich gelangen, wird noch allerlei auf dieses Blatt geschrieben. Danach bemüht sich das bewusste Ich, all dieses Geschreibsel zu entziffern und einen Sinn in ihm zu finden. Und es bemüht sich darum, einige Zeilen selbst hinzuzufügen. Sowohl das Mitgebrachte als auch das neu Hinzugefügte ist für jeden verschieden, daher gleichen sich die Menschen nicht, selbst wenn viele Ereignisse sie gleichermaßen betroffen haben. Dasselbe gilt auch für Geschwister.
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Das sehe ich ebenso wie Du, liebe Gerda!
Meine Töchter könnten unterschiedlicher nicht sein und doch haben sie fast identische Stimmen *lächel*
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… so dass du nie weißt, wer da am anderen Ende der Leitung ist, die eine oder die andere, hm? 🙂
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🙂 ich schon
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Ich hoffe, du bist inzwischen gut in Athen angekommen.
Wie tief hinein in die Seelen und die Geschichte inzwischen die verschiedenen Palimpseste geführt haben. Deine und die vielen anderen. Die letzten Tage haben mich so weit heraus geführt aus diesem Gedankenpfad, dass ich schon wieder Schichten bemerke, durch die ich mich hindurchkratzen muss, um anknüpfen zu können. Ich habe mich gefreut zu sehen, dass ich dank deines Zitats, durch das ich mich geehrt fühle, dennoch anwesend war, ohne es zu wissen.
Wählen können wir aus unserem Erbe wahrlich nicht, das glaube ich auch, nur wählen, was wir damit anfangen (siehe auch den zitierten Herrn Goethe). Wie du diesen Prozess anschaulich machst, versetzt mich in ausgedehntes Nachdenken darüber, wie er eigentlich bisher bei mir verlaufen ist, abgesehen von dem Vergleich mit dem sich Abarbeiten an den Wachstumsschichten.
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Danke, Ule. Ja, ich bin gut angekommen. Auch bei mir läuft das Nachdenken weiter, untergründiger jetzt. Heute morgen bin ich sogar auf den Goldgrund gestoßen, in dem alles zur Ruhe kommt.
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