abc-etüde: Wenn der Topf aber nun ein Loch hat (ungereimte Kata-Strophen)

Der letzte Tag für diese Etüdewoche mit den Wörtern, die Werner Karstens spendete: Abweichung, unabwendbar verengen. Nichts gegen die Wörter, lieber Werner! Aber wer liebt schon das Unabwendbare? Und das Verengen, das Atemnot erzeugt? Ist eine Abweichung nützlich, um die Freiheit zu gewinnen? Oder eher verderblich?

Wie auch immer:  die Kata-Strophen, die mir diesmal einfielen, reimen sich nicht.

 

ETÜDE: Wenn der Topf aber nun ein Loch hat

 

Der Lebensweg ach, er verengt sich

Wenn das Alter die Knochen zernagt

Und der Fuß nicht mehr leicht und beschwingt

Den Boden berührt, und die Treppe hinauf fliegt,

sondern mühsam humpelnd, das Geländer umklammernd

 die nächste Stufe, nach Atem ringend, erklimmt.

Wird in dem dunklen Gewirre der Adern

ein Klümpchen sich fangen, das Herz erreichen

Oder das Hirn und du liegst da, ein zappelndes Etwas

Schnaufend und keuchend und alles endet im Krampfe der Todes?

Wird dein tappender Schritt die Stufe verfehlen und stürzt du

Hinab und liegst da, und du wartest vergebens

Auf die hilfreiche Hand, die dir aufhilft?

Wird der Fisch, den zu isst, der letzte sein, der die Gräte

In deinen Schlund versenkt, und du würgst und bleibst auf der Strecke?

Die geringste Abweichung vom gewohnten Gange der Dinge

Und es endet tödlich für dich – so denkst du. Denn der Tod beendet das Leben.

Unabwendbar ist, dass am Ende der Tod die letzte Türe dir öffnet

und du gehst da hindurch, ob du willst oder nicht, doch wohin?

Wohin gehst du? Ins Nichts? In die Arme des liebenden Lichts, ins All-Eine?

Oder wirst du getäuscht? Wirst du schwanken im Reiche der Schatten

Süchtig nach Lebenswallung und heftig weinend

Ob des vergangenen Lichts, der Liebe, des Glücks?

Oder wirst du im Geistesreiche wandeln, lernend und forschend,

Zu sammeln das Wissen, das dir im kommenden Leben

Dienen wird, auf dass du klüger seiest als jetzt?

Wer weiß es.  Ich habe auch immer nur Fragen, wie Liese.

Wenn der Topf aber nun ein Loch hat, lieber Heinrich, was dann?

 

 

 

 

 

 

Über gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
Dieser Beitrag wurde unter Allgemein, Dichtung, die schöne Welt des Scheins, Katastrophe, Leben, Malerei, Meine Kunst, Mythologie, Psyche abgelegt und mit , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

34 Antworten zu abc-etüde: Wenn der Topf aber nun ein Loch hat (ungereimte Kata-Strophen)

  1. Ule Rolff schreibt:

    Die beiden Grafiken fügen sich äußerst passend zu dem düsteren Katastrophentext, obwohl sie so düster gar nicht sind.

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  2. Arabella schreibt:

    …stopf’zu dumme, dumme Liese, dumme Liese stopf’s zu…

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  3. Christiane schreibt:

    Ich finde deine Etüde (den Inhalt) großartig und richtig. Was ich immer wieder bei dir bewundere und wertschätze (und dir sei verraten, dass ich drauf achte, auch wenn ich andernorts nichts sage), ist das Metrum, nach dem du deine Kata-Strophen baust. Wer braucht da Reime?
    Vielen Dank, dass du wieder dabei bist!
    Liebe Grüße
    Christiane

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  4. kopfundgestalt schreibt:

    Sehr schön, liebe Gerda!
    Warum denkt man immer nur ans eine?
    Es ist merkwürdig im grunde.

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  5. Pingback: Schreibeinladung für die Textwochen 25.26.19 | Wortspende von viola-et-cetera | Irgendwas ist immer

  6. Beke schreibt:

    So nah, greifbar, fühlbar und verwandt sind mir Deine Gedanken im Text. Dazu fallen mir die Zitate der ganz Großen ein: „Philosophieren heißt sterben lernen“ (Michel de Montaigne) und natürlich der Grieche: „Ängstigt Euch nicht vor dem Tod, denn seine Bitterkeit liegt in der Furcht vor ihm.“ (Sokrates).

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    • gerda kazakou schreibt:

      Ganz herzlichen Dank, liebe Beke! für dein Mitlesen und deine sinnreichen Zitate. Da ich in deinem Blog nicht kommentieren kann, möchte ich es hier sagen; welch großer ästhetischer Genuss und Wissens-Gewinn es ist, bei dir zu lesen. Eine Riesengroße Empfehlung an alle meine Leserinnen und Leser: Bekes Blog.

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  7. wechselweib schreibt:

    Beeindruckend deine Sprachgewalt, liebe Gerda! Immer eine Freude, deine Etüden zu lesen!

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  8. kowkla123 schreibt:

    toll, liebe Gerda, wünsche dir einen schönen Sonntag, Klaus

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  9. Werner Kastens schreibt:

    Der Tod ist kein Angelpunkt, höchstens ein Wendepunkt. Und wenn der Topf kein Loch hätte, könnte der Lebenssatz nicht abtröpfeln und dafür sorgen, dass oben immer wieder nachgefüllt werden kann.
    Man spürt die verengte Brust und das schnellere Atmen regelrecht beim Lesen. Wie immer, lieber Gerda, große Klasse!

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  10. Agnes Podczeck schreibt:

    Vom analytischen Standpunkt aus betrachtet sehe ich und verstehe ich, dass Dein Text helle Seiten hat und gar nicht düster ist, sondern sogar auch leicht, beschwingt, ironisch.
    Trotzdem aber ich gehe hier mit Ule Rolff, es läge „im Auge ((bzw. der Seele)) der Leserin, welche Facette sie gerade stärker erreicht …“ – mich hat jedenfalls auch gerade ein Schauder ergriffen ob der Vergeblichkeit des Seins und der Bedrohung des unabwendbar nahenden Todes.
    Aber ach, nun lächele ich wieder und bin gespannt, Deinen folgenden Beitrag anzuklicken 🙂

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    • gerda kazakou schreibt:

      Danke, Agnes. Die Unausweichlichkeit des Todes ist ja leider keine Wahrheit, die im Auge des Betrachters liegt. Wenn man jung oder jedenfalls noch nicht sehr alt ist, bleibt sie noch im Bereich der Theorie bzw der Drohung, aber wenn man alt ist, ist sie ein Fakt. Dass das Leben vergänglich ist, bedeutet aber nicht, dass es vergeblich ist. Panta rheei.

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  11. Myriade schreibt:

    Eine Freude ist es so eine schöne, gepflegte Sprache zu lesen.

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  12. bluebrightly schreibt:

    I won’t try to translate this time – I love the second collage. The way the blue rectangle in the center looks like a window, and jumps forward, the way the tape and the drawing show your hand at work. Fantastic!

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  13. finbarsgift schreibt:

    Stark, eindringlich und komisch!
    Toll komponiert liebe Gerda 👍
    Liebe Abendgrüße vom Lu

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