Schwanenwege: „Im Brunnen“

Dieses Stück meines Romanfragments „Schwanenwege“ veröffentliche ich in Resonnanz mit Ullis heutigem Beitrag hier.  Ich füge jetzt keine Bilder hinzu. Vielleicht magst du, liebe Ulli, mir eine Collage dazu machen?
Zum inhaltlichen Kontext des Kapitels nur so viel: Es ist der sechste Tag des Romangeschehens und wir sind tief in den Mythos des Schwans eingestiegen. Es geht in dieser Phase um Selbstfindung: vertiefte Krise, Katharsis und Heilung. Swantje ist das fünfte jüngste Kind von Elisabeth und Schwester von Gise, Harald, Ludwig, Swen. Sie hat sich in Ägypten von ihrem Zwillingsbruder Swen getrennt, und versucht verzweifelt, sich selbst zu finden. … Sie wird entführt, schrecklich gequält („Inquisition“) und rettet sich, indem sie sich in einen Brunnenschacht fallen lässt. Danach ändert sich die Atmosphäre, die eben noch höchst bedrohlich war, und wird märchenhaft.

Im Brunnen
Swantje fiel und fiel. Die Sinne schwanden ihr. Als sie zu sich kam, war sie auf einer schönen Wiese, wo die Sonne schien und viel tausend Blumen standen*. Sie folgte einem Pfad, der mitten durch die Wiese lief, erst breit, dann immer schmaler, er senkte sich, wand sich hinab wie ein verschlungenes Band, bis er sich ganz verlor. Suchend schaute sie sich um. Hoch oben im Himmelsblau kreiste ein Raubvogel, er schien der Spirale ihres Abstiegs mit den Blicken zu folgen. Würde er sich auf sie stürzen und sie, eine leichte Beute, in seinen Hort tragen?

Der Todesadler hofft vergebens,
Der Schwan flog fort ins Reich des Lebens,

reimte es in ihr. Durch Gebüsche und Sträucher stieg sie weiter hinab. Als sie einen Holunderbusch streifte, hörte sie flüstern:

Nimm ein Blatt vom Holderstrauch,
Heilen wird es Herz und Bauch.

Sie brach ein Blatt, dankte und eilte weiter. Schon bald gelangte sie an den Grund einer Schlucht. Sie lauschte. Ein Plätschern wie von Wasser drang an ihr Ohr, sie folgte dem Ton und kam an einen Bach, den die tief hängenden Zweige von Weiden und Erlen fast ganz dem Blick verbargen. Ein Eisvogelpärchen flog auf und schwirrte davon, die Federn sprühten in tausend herrlichen Funken.

Ihr Zaubervögel von Lernas See,
versprecht mir Frühling in Eis und Schnee,

klang es in ihr nach.
Nach wenigen Schritten stieß sie auf weiße Federn, die unter dem Laub hervorschimmerten. Vorsichtig entfernte sie die Blätter. Ein Schwanenflügel, dachte sie bestürzt, er ist zerbrochen. Sie stand lange still und lauschte in sich hinein. Da war ein Gesang in ihrem Herzen, und der ging so:

Von welchem Land bist du, O Schwan, zu welcher Küste fliehst du hin?
Wo wirst du ruhen, O Schwan, und was ist’s das du suchst?
Erwache, O Schwan, an diesem Morgen noch, steh auf, folge mir!
Es gibt ein Land, dort herrschen nicht Zweifel noch Sorge, und der Schrecken des Todes ist nicht mehr.
Der Frühlingswald blüht, und der Wind trägt den Wohlgeruch ‘Er ist ich’.**

Er ist ich, murmelte Swantje. Schweren Herzens trennte sie sich von dem Flügel, sie wollte bleiben, aber eine Sehnsucht zog sie weiter. Sie schritt den Pfad am Bach entlang, bis eine Felsbarriere ihren Weg versperrte.
Da hörte sie ein Summen in der Luft, und ein Stimmchen flüsterte:

Steig hinüber, steig hinunter,
dem klaren Wasser folge munter.

Es war tatsächlich ganz leicht, hinüberzugelangen. Auf der anderen Seite hatte sich ein kleiner Wasserfall gebildet, der über weißes Felsgestein hinabschoss. Gold flimmerte in dem zerstäubenden Wasser.

Sammle Gold in deinen Schoß,
bist gleich alle Schmerzen los,

hörte sie es jetzt aus dem Wasserfall flüstern, und sie bückte sich und hielt ihre Hände in den glitzernden Strahl. Da füllten sie sich mit Licht und Gefunkel, und sie strich damit über ihren Leib, bis er ganz fein zu leuchten begann. Sie machte noch einen Schritt voran und stellte sich unter den Strahl, der als Goldregen über ihr niederging. Eine milde Wärme durchströmte sie, sie atmete frei und beglückt, hob den Blick zu dem Wasserfall und sagte leise:

Du Geist des Wassers, sei bedankt.
Verwundet kam ich angewankt,
du gabst von deinem Gold in Fülle,
dass ich des Leibes Not umhülle.
Dein Gold durchwärmt und heilt die Schmerzen,
drum sei bedankt von ganzem Herzen.

Swantje stand und folgte dem Bachlauf mit den Blicken. Zunächst eilte er strudelnd abwärts, dann verlor er sich ganz im Dunkel der überhängenden Zweige und der wuchernden Pflanzen, die bis an sein Ufer drängten. Weiter unten tauchte er wieder auf, sein Bett verbreiterte sich, die Ufer traten zurück und ließen Raum für einen silberhell schimmernden See, der von Platanen gesäumt war. Die Magie des Ortes zog sie unwiderstehlich an.
Schritt vor Schritt setzend, watete sie durch den Bach, suchte Halt auf Soden und Steinen, und schon hatte sie den See erreicht. Dort ließ sie sich unter einer Platane ins Gras sinken. Himmelsbläue glänzte durch das Gezweig, Sonnenflecken und Schatten spielten über ihren golden schimmernden Leib dahin.
Eine Eidechse glitt über einen Stein, hob das Köpfchen, stutzte, krabbelte auf Swantjes Hand. Die Berührung war wie ein zarter Hauch. Funkelte nicht ein Krönchen auf ihrem Kopf? Swantje hielt ganz still und flüsterte:

Kroko, Krone, Krokodilchen,
hast wohl Lust auf Liebesspielchen?

Das Eidechschen züngelte und lispelte:

Woher kommst du, holde Nymphe?
Aus dem schwarzen Sog der Sümpfe?
Aus dem tiefen Brunnenloch,
woher kommst du, sags mir doch!
Wo fandst du das goldne Leibchen,
schönstes aller schönen Weibchen?
Wart ich bring dir sieben Schleier,
dass geschmückt du gehst zur Feier.
Tanzen wirst du, schönes Kind,
tanzen mit dem Frühlingswind!

und schon raschelte es davon.
Swantje lächelte und schloss die Augen, sank hinab und stieg hinauf in sanftem Wiegen, eine weiße Schwanenfeder aus Frau Holles dickem Federbett, die der Wind hob und senkte und hob, und sie trieb und tanzte wiegend, beseligt davon, davon. Um sie her tönte es in herrlichen Harmonien und sprach:

Wozu werden Worte gebraucht, wenn Liebe mein Herz trunken macht?
Der Schwan hat seinen Flug jenseits der Berge genommen;
Wozu sollte er weiter nach Tümpeln und Gräben suchen? ***

Eine kleine schwarze Schlange glitt heran und ringelte sich um ihr Fußgelenk.

_________

*[1] „Frau Holle“, ein Märchen der Gebrüder Grimm.

**[1]12 II. 24. hamsâ, kaho purâtan vât, aus:  Songs of  Kabîr, freie Übersetzung nach der englischen Fassung von Rabindranath Tagore.

***[1] 33 II. 105. man mast huâ tab kyon bole. Songs of Kabir, Ebenda.

Über gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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20 Antworten zu Schwanenwege: „Im Brunnen“

  1. wildgans schreibt:

    Es rührt mich an…nur habe ich leider dieses mythische Denken nicht, meines ist eher simpel im Sinne des hässlichen Entleins oder so…(Deine Texte sind so perfekt, finde ich!)

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  2. eulenschwinge schreibt:

    „Kroko, Krone, Krokodilchen,
    hast wohl Lust auf Liebesspielchen?“
    – Diese Zeilen finde ich herrlich charmant!

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  3. Ulli schreibt:

    Dieser Ausschnitt ist reich an Bildern und ich werde schauen was sich in mir ausbreitet, die erste Idee, die ich habe, wird schwierig umzusetzen sein, ach, könnte ich doch zeichnen! Nun, ich kann anderes und gerne schenke ich dir dazu ein Bild, ich fühle mich geehrt, sehe meins gewürdigt. Dafür danke ich dir.
    Aber nun noch zu deinem Werk, ab und an stosse ich beim Lesen auf etwas, da möchte ich sagen: liebe Gerda, lass das eine Wort doch weg oder so, da bin ich Lektorin, aber wenn ich das sein lasse, dann falle ich in die Geschichte, stürze mit Swantje in den Brunnen. Weisst du eigentlich, dass die Goldmarie mir eine der Liebsten ist? Auch das hat eine Geschichte, aber was nicht, wenn man erst einmal so alt geworden ist!
    Sehr gerne bin ich dir in deinen Brunnen gefolgt, fast schon hörte ich Sirenengesang, so lieblich kommt die Freude daher.
    Und ich kann es auch nur immer wieder sagen, dieses Buch muss in die Welt!
    Herzlich zugewandte Grüsse
    Ulli

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    • gkazakou schreibt:

      Danke, Ulli. Mich würde sehr interessieren, welche Wörter du weglassen würdest. Kannst du mir ein paar Beispiele nennen? eine Lektorin hätte ich doch allzu gern, aber für den Moment würde mir auch ein kleiner konkreter Hinweis nützen. Auf das Bild freu ich mich sehr. Habs fein! Gerda

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      • Ulli schreibt:

        Hier war es nur eins, das den Rhythmus störte (für mich), aber dazu muss ich nachher noch einmal zu dir kommen, jetzt wartet die Suppe auf mich!
        bis gly, wie sie hier sagen!

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      • Ulli schreibt:

        Tja, nun habe ich den Text dreimal gelesen und alles ist an seinem Platz, vielleicht war ich noch zu sehr in Meinem verhangen, an dem ich heute Morgen in mein Notizbuch schrieb, aber merke, liebe Ulli, wenn dir etwas auffällt, kopiere es direkt und warte nicht 😉
        Herzensgrüsse an dich
        Ulli

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    • gkazakou schreibt:

      A, ja, und noch: dass du eine Goldmarie bist, ahnte ich, wegen ihrer Bereitschaft, freundlich mit den Wesen der Natur zu kommunizieren und ihnen helfend zur Seite zu stehen. 🙂

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    • gkazakou schreibt:

      Willst du etwa sagen, Ulli, dass es hier nichts zum Wegstreichen gibt? Du bist mir eine schöne Hilfe! 😉 Ich MUSS das Manuskript kürzen,,,,, 😦

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      • Ulli schreibt:

        🙂 wieso? wer sagt das? 🙂
        nee, mal Spass zur Seite, wenn du wirklich kürzen MUSST, dann kann ich dir nur vorschlagen, dass ich ab kommendem Herbst dein Manuskript lese und dann mit dir gemeinsam überlege, wäre das was?
        Vorher gehts nicht, das jahr nimm wieder Galopp auf und schon am WE stehe ich wieder in der Küche und dann wieder jeden Monat mehr und mehr, vom Umzug und all dem galama mal abgesehen, ausserdem will ich ja auch noch nach Griechenland reisen….

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      • gkazakou schreibt:

        schon gut, Ulli 🙂 Nun komm erst mal her….

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  4. kunstschaffende schreibt:

    Du siehst liebe Gerda, wir lassen nicht locker, dass hat Ulli genau getroffen, DIESES BUCH MUSS IN DIE WELT!!!!! BiTTE, BITTE!!!!

    Wünsche Dir eine wunderschöne Woche!

    ❤Grüße Babsi

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  6. bruni8wortbehagen schreibt:

    Natürlich muß Dein Buch in die Welt, liebe Gerda, und kann es sein, daß Dein Text mit seinen gereimten Einschlüssen sehr absichtlich so ist, wie er ist? Ich finde nichts, was ich rausnehmen oder verändern würde, weil es zu viel von Gerdas Stil wegnehmen würde und er bewegt sich auf der Grenze zum Märchenhaften und manchmal mitten im Augenzwinkern und genau da ist Deine Stärke, liebe Gerda. Wie geschickt lockerst Du auf und machst eine so liebenswerte Märchen*satire* daraus, daß ich natürlich gleich die Frau Holle erkenne, aber vorher schon die geliebte Goldmarie, die ja auch in den Brunnen fiel. Aber sie backt keine Brotlaibe und plückt keine Äpfel vom Baum, sie findet die Feder des Schwanen, der vielleicht in einen Sturm geriet.

    Und dann die Eidechse, wie fein und klein und liebenswert, so etwas ist mir noch in keinem Märchen begegnet und ich bin bezaubert, liebe Gerda

    Mit lieben Grüßen Bruni, wie immer spät am Abend, nach meinem Feiertag *g*, der mich vom PC weghielt

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    • gkazakou schreibt:

      ach, du Liebe, wie gern ich deine Kommentare hab! das Augenzwinkern – du kannst es erkennen, liebe Bruni. Die Swantje, das kannst du nicht wissen, ist eine Reimerin, das hat sie von ihrem mythologischen Vorbild, der schönen Helena von Sparta, die von Leda geboren wurde. Bei Goethe im Faust II wird sie uns als Poetin vorgestellt. Also kommt der Swantje, die wie Helena eine Schwanengeborene und Schwanenschönheit ist und wie ihr Zwilling Swen bei Sparta empfangen wurde, alles Denken in Reimform. ,…..
      Ich wollte, ich könnte dies Romanprojekt zu einem guten Abschluss bringen, denn es steckt viel Witz darinnen, ist aber leider ein rechtes Monstrum mit allzu vielen mythischen Verweisen, die der heutige Normalleser kaum wird entschlüsseln können.

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      • bruni8wortbehagen schreibt:

        oh, ach, den Faust hab ich leider nie gelesen 🙂
        Aber Leda sagt mir natürlich viel *lächel*
        Du bewegst Dich mit diesem Roman mit Deinem großem Wissen dort, wo Du anspruchsvolle Leser brauchst, damit verstanden wird, was alles Du in Deinem Stoff unterbringst. Ein Lektor würde Dir sicher raten zu kürzen, aber da wird Dein Herz bluten, liebe Gerda. Ich leide jetzt schon mit Dir.

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  7. gkazakou schreibt:

    Kürzen ginge schon, liebe Bruni, aber Ebenen wegstreichen geht nicht. Denn die mythologische Ebene ist der Nährboden meines Denkens und des Romans. Aus ihm wächst das Geschehen hervor. Im Griechischen heißt Roman μυθιστόρημα, Mythistorima, Mythenerzählung.
    Du kennst Leda, aber du kennst vielleicht nicht die ganze story. Leda wurde von Zeus in Gestalt eines Schwans begattet, und in derselben Nacht beschlief sie auch ihr menschlich-königlicher Gatte. Aus dieser Doppelbefruchtung gingen zwei Zwillingspaare hervor, von denen jeweils der eine Zwilling sterblich, der andere unsterblich war. Das eine Paar war weiblich: die unsterbliche Helena und die sterbliche Klythaimnestra, beide fatale Frauen: die eine führte zum Trojanischen Krieg, die andere ermordete den aus Troja zurückkehrenden Gatten Agamemnon. Dann gab es das männliche Zwillingspaar, die Dioskuren. Die wurden in Rom sehr verehrt und als „Zwillinge“ an den Sternenhimmel gesetzt. Sie versinnbildlichen den Menschen, der einen sterblichen Leib, aber eine unsterbliche Seele hat.
    All das sind sehr tiefe Themen. Leonardo, der sonst keine mythologischen Themen aufgriff, hat das Leda-Thema wieder und wieder bearbeitet, und in der Lyrik und Malerei gibt es endlose Bemühungen, es zu erfassen. Die meisten bleiben am Erotischen hängen, aber das ist durchaus nicht alles.
    Ach, Bruni, manchmal ist es eine Plage, wenn man zu viel gelesen hat und drüber nachdenkt … Man findet kein Ende wie ich jetzt mit diesem Kommi. Gute Nacht! Schlaf gut und träume sanft!

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