Alphabet des freien Denkens: K wie ΚΕΦΑΛΙ/Kopf und ΚΑΡΔΙΑ/Herz

K, κ wie ΚΕΦΑΛΙ/kephali und ΚΑΡΔΙΑ/kardia

(Du kennst Enzephalographie (EEG) bis Elektrokardiogramm (EKG), und noch viele andere medizinische Begriffe, die Cephalus oder Kardia enthalten.)

Kappa ist der zehnte Buchstabe des griechischen Alphabets. Er kommt vom phönizischen kaf, was Handinnenfläche bedeutet.

In die beiden Handinnenflächen sind Linien eingeprägt, die die Hauptmerkmale eines Menschen widerspiegeln. K wie κεφάλι (Kopf) und K wie καρδιά (Herz) beherrschen den oberen Abschnitt der Fläche – so, wie sie die oberen Funktionen des Menschen regieren.

handlesen-gross(Dieses Bild fand ich in einem Artikel über die Schweizer Handleserin Alice Funk, von Ela Dobrinkat, 2009)

In welchem Verhältnis stehen Herz und Kopf zu einander? Laufen sie getrennte Wege, weit voneinander entfernt? Oder rücken sie eng zusammen, überschneiden sich gar? In gutem Gleichgewicht, sagte ich gestern, sollen Denken und Fühlen stehen. Das Gefühl soll das Denken nicht überschwemmen, aber das Denken soll auch nicht abgekoppelt sein vom Herzen. Es bedarf einer Verbindung, eines Ausgleichs, es bedarf der Kommunikation zwischen Kopf und Herz, damit freies Denken möglich wird.

Wenn sich  die Denktätigkeit aufs Hirn zurückzieht, wird sie einseitig-rational und kann für jedweden Zweck eingesetzt werden. Sie gewinnt an Schärfe, verliert aber an Breite und Tiefe. Und an Wärme. Sie wird zum angespitzten Pfeil, der jederzeit vom Bogen der Lippen sich lösen möchte, um ein Ziel zu treffen. Oft genug ist dieses Ziel ein Herz.

Ich kenne diese Gefahr, denn ich bin das, was man eine „Intellektuelle“ nennt.  Ein scharfes, treffendes Wort zu finden, ist mir ein Leichtes. Schwerer fällt es mir, es zurückzuhalten, denn es ist so herrlich … treffend!

Die alten Griechen haben die Technik, treffende Argumente zu entwickeln, zur Kunst erhoben: die Rhetorik der Alten stand unter dem Schutz der Muse Kalliope – der ältesten und elegantesten der neun Schwestern, die für die epische Dichtung, die Rhetorik, die Philosophie und die Wissenschaft zuständig war.

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Und so ist die Rhetorik bis heute in hohen Ehren geblieben, wenngleich sie kaum noch als Kunst gelehrt wird: im griechischen Parlament muss man frei, ohne Manuskript sprechen und den Gegner möglichst gekonnt aufspießen. Für eine gelungene scharfe Pointe (frz =Spitze) gibt es stürmischen Beifall von der eigenen Partei und wütende Zwischenrufe von der gegnerischen, die sich sogleich zu Wort meldet, um ihrerseits ihre Pfeile zu platzieren.

In der modernen Rhetorik steht selten das Argument im Mittelpunkt, vielmehr werden vor allem die Emotionen der Zuhörer angesprochen und aufgewühlt. Insofern weicht der heutige Gebrauch rhetorischer Mittel deutlich von seinem klassischen Ideal ab, das Aristoteles formulierte.*  Sicher wollten immer schon alle Redner das Herz des Zuhörers ergreifen, aber Aristoteles hielt nur solche Emotionalisierung für redlich, die sich vom Gegenstand selbst speiste. Das Herz zu entflammen für eine gerechte Sache, indem man nachwies, dass sie gerecht war – das war das edle Ziel seiner Rhetorik-Schulung.

In meiner Anfangszeit in Griechenland, als ich, kaum etwas verstehend, als einzige Frau mit am Tisch des Dorf-Kafeneion saß, war ich oft erschrocken, dachte: gleich gehen sie sich an die Gurgel, gleich ziehen sie ein Messer und stechen es dem politischen Gegner ins Herz.  Dann aber standen sie auf, schlugen sich auf die Schulter, stichelten noch ein bisschen, lachten auch, und gingen zufrieden heim.img_2589-sw

Sind die Griechen wegen ihrer Freude an rhetorischer Polemik (Polemos=Krieg) unfriedlich und herzlos? Nein, natürlich nicht. Sie sind anders an die meisten Deutschen, die dieses Spiel weder kennen noch goutieren. Die so gar keine Freude an geschliffenen Rededuellen haben. Die das schnelle, oft sich überlagernde Hin und Her von Worten für Geschwätzigkeit halten und nicht verstehen, dass es sich um ein raffiniertes Übungsfeld handelt, auf dem man lernen kann, zu kommunizieren und „bis an die Grenze zu gehen“ – also auszuprobieren, wo die eigenen Grenzen und die des anderen sind. Wer von klein auf die scharfen und zuweilen fast erbarmungslosen πειράγματα* kennt und übt, lernt etwas über Grenzen und respektiert sie später fast instinktiv: den anderen im Herzen zu treffen – das gehört sich nicht, das ist „unter der Gürtellinie“ (wie man im Deutschen sagt). Und natürlich brauchst du ihm auch nicht die Freundschaft aufzukündigen oder ihn gar tot zu schlagen, nur weil er dich geärgert hat. Es ist ein Spiel.

(*Für das urgriechische Wort πειράγματα gibt es keine deutsche Übersetzung. Am nähesten kommt vielleicht: sich mit Worten lustig machen, jmd aufziehen.)

Der Kopf – er beherrscht das Spielfeld. img_3619

Oder ist es doch das Herz, das triumphiert? img_3615

Vielleicht. Doch wenn das Herz übermütig ist und Klarheit vermissen lässt, img_3620-blau

fällt das Ich genauso vom Ross, wie wenn es in den kalten Sphären des Verstandes gefangen bleibt.img_3617-halb

Was ist, so fragst du vielleicht, das Herz, η καρδιά, für einen Griechen? Meine Antwort: Es ist ein geschützter Raum, ist der fruchtbare mütterliche Boden, aus dem das Leben sprießt. Die Herzenskräfte nähren den Menschen, aus ihnen lebt er. „Halte Herz und Kopf auf getrennten Bahnen! Übe deinen Kopf und setze dein Herz nicht den Pfeilen deiner Mitmenschen aus!“ Das würde eine griechische Mutter wohl ihrem Kind empfehlen. „Dein Kopf leite dich klug, dein Herz aber sei dein Refugium in den Kämpfen des Lebens, so wie ich, deine Mutter, dein Refugium bin, solange ich lebe.“

So wortfreudig die Griechen sind, so schweigsam sind die meisten über das, was sie innerlich bewegt. Ihr Herz ist ihr persönliches Heiligtum, in das niemand eindringen darf. Selten decken sie es auf.  Viele bauen um ihr Herz eine Grenze, einen hohen Zaun, manchmal auch eine Mauer – und wehe, du versuchst, da hinein- und hinüberzusteigen.

Die Lyrik und die Musikcharts sind voll von Herzensergüssen. Aber übers eigene Herz gilt es zu schweigen.

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*Tέχνη ῥητορική téchnē rhētorikḗ) ist eines der Hauptwerke des Philosophen Aristoteles (384–322 v. Chr.)

Aristoteles unterscheidet drei Überzeugungsmittel, d. h. drei Arten, wie eine Überzeugung zustande kommen kann:

  1. Der Charakter des Redners (ἦθος ē̂thos)
  2. Die Emotionen des Publikums (πάθος páthos)
  3. Das Argument (λόγος lógos)

Das Argument hält er für das wichtigste Überzeugungsmittel. Diese drei Arten sind kunstgemäße Überzeugungsmittel, d. h. solche, die zur Rede selbst gehören. Nach Aristoteles kann es neben diesen dreien keine weiteren kunstgemäßen Überzeugungsmittel geben. Es gibt aber kunstfremde Überzeugungsmittel (πίστεις ἄτεχνοι písteis átechnoi), d. h. Überzeugungsmittel, die nicht zur Rede selbst gehören. Hierunter fallen etwa Zeugenaussagen, Präzedenzfälle, schriftliche Zeugnisse, Zitate, Eide und Folter……

Aristoteles kritisiert die alleinige Verwendung von Emotionen ohne argumentative Elemente sowie eine Verwendung der Emotionen, die nicht sachorientiert ist. Seine Emotionstheorie ist daher primär darauf ausgerichtet, dass beim Zuhörer Emotionen hervorgerufen werden, indem sie aus dem verhandelten Sachverhalt selbst herbeigeführt werden. Derartige Emotionserregung unterstütze eine sachorientierte Rhetorik. (zitiert nach wikipedia, Aristoteles, Rhetorik)

Über gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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18 Antworten zu Alphabet des freien Denkens: K wie ΚΕΦΑΛΙ/Kopf und ΚΑΡΔΙΑ/Herz

  1. kunstschaffende schreibt:

    Das ist sehr interessant was Aristoteles sagte, denn oft heißt es in Deutschland, man solle sachlich bleiben und seine Emotionen zügeln! Ich bin auch der Meinung beides gehört zusammen! Das richtige Maß ist sicher entscheident!

    Dann das Thema mit dem Herz- und Kopfsache, die griechische Einstellung dazu gefällt mir sehr gut! Denn, wer nach allen Seiten offen ist, der kann nicht ganz dicht sein (Redewendung)! Mein Herz ist für mich auch wie ein Save, wer es ernst meint, weiß wie man ihn knackt, vielleicht!😜

    Deine Legearbeiten sind fantastisch und unterlegen das Thema auf wunderbare Weise!

    Wie immer ein wunderbarer Beitrag von Dir! Und weißt Du was, die deutschen Politiker sind so langweilig und emotionslos und kaum, bei wichtigen Entscheidungen, vertreten, daß sie von den griechischen noch viel lernen können! Ich habe griechische Parlaments Debatten im Fernsehen schon gesehen, da ist der Saal gerammelt voll! Bei uns ist der Saal wohl zu groß!

    ❤Abendgrüsse Babsi

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  2. gkazakou schreibt:

    ich schmunzel über dein Safe. Gut gesagt! Man muss dir wohl die Zahlenkombination entlocken. Die Debatten hier sind auch nicht immer interessant, aber es stimmt, dass die Redner sich mehr ins Zeug legen. Seine Emotionen (Pferde) sollte man vielleicht doch zügeln, damit sie nicht mit einem durchgehen. Leicht vergalloppiert sich, wer ihnen folgt und seinen kühlen Verstand zu Hause lässt. Sind eben beide nötig, man muss sie in ein gutes Verhältnis zueinander bringen. Die alten Griechen hatten als Sinnbild dafür das Wagenrennen mit zwei Pferden. War eine hoch angesehene olympische Disziplin. Schönen guten Morgen, dir, Babsi! Gerda

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  3. kowkla123 schreibt:

    man findet bei dir immer wieder sehr interessante Beiträge, danke dafür, ich wünsche schon jetzt ein friedliches, gesundes, glückliches und fröhliches Jahr 2017

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  4. Ulli schreibt:

    In Tibet und in anderen buddhistischen Traditionen lehrt und übt man die Debatte, letztlich gewinnt der/die mit den besten Argumenten und Emotionen sind zwar da, regieren aber nicht den Inhalt und die Sachlage- manches Mal dachte ich schon, was wir Deutschen doch für ein armes Volk sind, nichts wird uns gelehrt, ausser zu gehorchen und zu funktionieren und wehe der und dem, die es nicht tun – nein, liebe Gerda, nimm das jetzt bitte nicht allzu ernst, aber als ich mal einen Film über debattieren sah, ging es mir so-
    herzliche Grüsse vom blausonnigen Winterberg
    Ulli

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  5. finbarsgift schreibt:

    Herz und Kopf…
    Es gibt Momente im Leben, da wollen sie nicht so richtig zusammenwirken…

    Das sollte man dann eben akzeptieren 🙂

    Schön geschrieben und schön, deine Kappa-Kunstwerke dazu!

    Hab einen schönen Tag und rutsche morgen fein ins neue Jahr! Liebe Wintergrüße vom Lu

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  6. karfunkelfee schreibt:

    Liebe Gerda,

    Du hast sehr schön anschaulich bebildert, erklärt und beschrieben. Oft zeigst Du mir kunstgeschichtliche Zusammenhänge auf, die ich selbst niemals so hätte zusammenbringen können.
    Es macht großen Spaß und ist sehr spannend, das zu lesen. Zumal Du in einer Weise schreibst, dass ich alles gut verstehen und nachvollziehen kann.
    Lieben Dank!
    Ich wünsche Dir einen guten Rutsch und ein gesundes und glückliches neues Jahr 2017.
    Liebe Grüße von der Fee

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    • gkazakou schreibt:

      Sehr gern habe ich das gelesen, liebe Fee! Vielen Dank dafür! Was das Jahr 2017 anbetrifft: lass es erst mal kommen, es wird schon wissen, was es uns bringen will. Natürlich hoffe ich, dass es Frieden im Gepäck hat, an dem wir uns alle freuen können. Allerliebste Grüße dir! Gerda

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  7. Martina Ramsauer schreibt:

    Für mich muss man so gut wie möglich versuchen zwischen Herz und Verstand einen Ausgleich zu finden und ich erachte es also etwas absolut Kostbares, wenn mir ein Freund sein Herz öffnet. Ich wünsche mir für das komende Jahr, dass wir die rhetorische Polemik mehr üben😀 Ich danke dir , Gerda für all deine wertvollen Beiträge. Cari saluti Martina

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